Kinder
Tagesordnung der
Elternbeiratssitzung. Alle Punkte waren besprochen worden, und sonst war bisher
nichts Außergewöhnliches zur Sprache gekommen. Das würde er nun ändern.
»Meine Damen, meine Herren«, begann er, »nun habe ich noch ein sehr
unangenehmes Thema, über das ich Sie heute informieren muss. Es geht um Familie
Pietsch, die drei Kinder hier an der Schule hat – viele von Ihnen kennen sie
ja.«
Die Elternvertreterin der 6d, Frau Knaup-Clement, verdrehte genervt
die Augen, einige grinsten, als sie das sahen.
»Nun, es gibt eine ungeheuerliche Anschuldigung Herrn Pietsch
gegenüber. Sein Sohn Michael wurde von einigen Jugendlichen zusammengeschlagen,
und im Zuge der ärztlichen Untersuchungen wurden auch ältere Spuren von
Gewalteinwirkung gefunden.« Er machte eine Kunstpause und sah in die Runde, um
auch von allen die volle Aufmerksamkeit zu kriegen. »Der arme Michael wies
solche Spuren auch … nun ja … ähem … im Intimbereich auf.«
Entsetztes Gemurmel, einige Anwesende hoben die Augenbrauen.
»Das Jugendamt hat mit mir ein Gespräch über Michael und seine
Familie geführt, ich habe Frau Moeller dazugebeten, Michaels Klassenlehrerin.«
Er unterbrach sich wieder, drückte die Fingerspitzen gegeneinander und versuchte
eine möglichst leidende Miene aufzulegen. »Ich weiß natürlich nichts Genaues,
und ich möchte, um Himmels willen, auch keine Gerüchte in die Welt setzen, aber …«
»Aber?« Karin Knaup-Clement platzte fast vor Ungeduld.
»Aber … das Jugendamt scheint nach jetzigem Stand der Dinge davon
auszugehen, dass Herr Pietsch …«
Mehr musste er nicht sagen, das Gerücht war in der Welt, die
Pietschs, die ihm in diesem Schuljahr schon genug Ärger bereitet hatten, waren
so gut wie erledigt – und es kostete Rektor Wehling einige Willenskraft, sich
ein zufriedenes Lächeln zu verkneifen.
Lukas kam als Erster zu seinen Eltern an den
Frühstückstisch, aber niemand sagte ein Wort. Er fragte, was los sei, bekam
aber keine Antwort. Auch Michael kam herunter, setzte sich wortlos dazu.
Schließlich erschien Sarah, plapperte drauflos und nahm die beiden Jungs dann
gleich mit zum Bus.
Rainer und Annette Pietsch blieben noch kurz sitzen, tranken ihren
Kaffee aus und gingen dann wortlos und ohne Abschiedskuss auseinander.
In der Schule hatte Lukas das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Aber
wann immer er sich umdrehte, er konnte niemanden entdecken, der zu ihm hersah.
Nur einmal drehte sich seine Klassenkameradin Tabea ein wenig zu spät weg, und
er konnte noch kurz ihren abschätzigen Blick auffangen.
Was war heute nur los?
Rosemarie Moeller stand in engem Kontakt mit dem
Jugendamt, und ihre Nachfragen, manchmal verbunden mit gezielt gestreuten
Fehlinformationen, verbesserten die Lage der Pietschs nicht.
Im Unterricht lief es längst wie geschmiert. Die Sechsklässler
lernten mit dem Eifer, den sie zu wecken gehofft hatte. Sie vertrauten ihr voll
und ganz, und die beachtlichen Lernerfolge selbst der etwas schlechteren
Schüler bestätigten sie und ihre Eltern darin nur noch.
Es gab keine Gegenwehr mehr. Die Kinder ließen sich auf jede
Lernmethode ein, saugten neues Wissen begierig auf und probierten ungewöhnlich
wirkende Ansätze ihrer Lehrerin mit Freude aus. So machte ihr die Arbeit Spaß,
und so konnte sie den besten der Kinder am ehesten den Weg nach oben ebnen –
denen, die in späteren Jahren den Erfolg ihrer Methode von der Tabula rasa
bedeuten würden, der leer gewischten und hinterher gezielt wieder mit
nützlichem Wissen beschriebenen Tafel.
Heute stand Geschichte auf dem Stundenplan, und Rosemarie Moeller
rief Michael Pietsch nicht zufällig nach vorn. Sie fragte ihn nach Details zum
Stoff der vorangegangenen Stunden, und Michael konnte fehlerfrei und umfassend
antworten. Seit seinem Streit mit Tobias und Marc, vor allem aber seitdem er
von Jugendlichen verprügelt worden war, sah sie Michael oft stumm und allein in
der Pause sitzen. Immer wieder ließ er selbst seine engen Freunde Petar und
Ronnie abblitzen, aber die beiden waren unermüdlich und bemühten sich immer
wieder neu um ihn.
Als Michael den Test vorne an der Tafel bestanden hatte, sah
Rosemarie Moeller ihn kurz an. »Geht’s dir gut?«, fragte sie ihn dann.
Michael erschrak ein wenig, weil er seit den Beschwerden der Eltern
zu Beginn des Schuljahres von Rosemarie Moeller kaum ein persönliches,
geschweige denn ein nettes Wort gehört hatte.
»Nicht, oder?«, fasste sie nach und strich ihm sanft
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