Kinder
Geringsten.
»Mama?«
Sarah hatte ihre Mutter schon eine Weile lang beim Abwasch
beobachtet. Sie schien angespannt und hatte offenbar schlecht geschlafen.
»Mama?«, fragte sie noch einmal, als keine Reaktion kam.
»Was ist denn, Sarah?«
Annette Pietsch hatte sich umgedreht. Mit den geröteten Augen und
der aschfahlenen Gesichtsfarbe sah sie noch viel schlimmer aus, als Sarah es
erwartet hatte.
»Dir geht’s nicht gut, oder?«
»Nein«, sagte Annette Pietsch, setzte sich zu ihrer Tochter an den
Tisch und wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab.
»Was ist denn mit Papa?«
»Der hat Probleme. Große Probleme.«
»Können wir was tun?«
Annette Pietsch sah ihre Tochter traurig an, dann lächelte sie
wehmütig.
»Haltet zu ihm, das ist das Beste, was ihr tun könnt, du und Lukas.«
»Ich und Lukas?«
Sarah stutzte.
»Du hast Michael weggelassen. Kann der nichts für Papa tun?«
»Doch, der am allermeisten – aber dazu müsste er einfach mal sagen,
was Sache ist. Denn Michael oder eigentlich Michaels Schweigen sind der Grund
für Papas Probleme.«
»Und du? Was kannst du tun?«
»Ich muss auch zu ihm halten.«
»Das machst du ja ohnehin.«
Annette Pietsch presste ihre Lippen zusammen, dann sagte sie: »Ich
weiß nicht recht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht recht, ob ich wirklich zu ihm halten kann.« Sie
stockte und suchte nach den richtigen Worten. »Weißt du, Sarah, das ist
wahrscheinlich der schlimmste Vorwurf, den man Eltern machen kann: dass sie ihr
Kind anfassen, wie sie es nicht anfassen sollen.«
»Dass sie es missbrauchen, meinst du. Bitte, red mit mir nicht wie
mit einem kleinen Kind.«
»Ja, tut mir leid, du hast ja recht. Auf jeden Fall ist es der
schlimmste Vorwurf von allen. Aber …«
Eine Pause entstand.
»Aber?«
»Aber noch schlimmer ist, dass letztendlich keiner weiß, was
wirklich passiert ist. Papa wird beschuldigt, und Michael sagt kein Wort.«
»Aber Papa hat das doch nicht getan!«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie und stand auf.
Hoffentlich nicht, dachte sie und schluckte.
Rainer Pietsch blieb an diesem Morgen im Bett, bis alle
anderen aus dem Haus waren. Seine Frau wusste Bescheid, er hatte sie den Brief
der Personalabteilung lesen lassen, aber nicht einmal daraufhin war es zu einem
richtigen Gespräch zwischen ihnen gekommen. Die Kinder glaubten, er habe heute
kurzfristig freigenommen, weil es ihm nicht gut ging. Das klang für sie
durchaus plausibel: Dass und warum er unter Druck stand, wussten sie ja. Doch
Rainer Pietsch wurde das Gefühl nicht los, dass seine Frau nicht vollständig
von seiner Unschuld überzeugt war – das tat viel mehr weh als alle
Beschuldigungen und Verdächtigungen.
Er trank ausgiebig Kaffee, las die Zeitung komplett durch, aber auch
danach war erst eine gute Stunde vergangen und der Vormittag noch lang. Also
begann er, die Speisekammer aufzuräumen, abgelaufene Lebensmittel auszusortieren
und Blumen zu gießen.
Gegen elf hatte er zu nichts mehr Lust, und er schaltete den
Fernseher ein. Irgendeine Talkshow lief, in der sich unglaublich dumme Leute
über unglaublich dumme Kleinigkeiten stritten. Er hatte nicht einmal mehr die
Kraft, das Gerät auszuschalten.
Sarah sah Rico schon vom Bus aus, aber hinter ihr drängten
bereits die anderen Schüler und damit war es zu spät, einfach eine Haltestelle
später auszusteigen. Also ließ sie sich hinaustreiben und tat so, als hätte sie
ihn nicht bemerkt.
Rico hatte nervös gewirkt, hatte sich immer wieder kurz umgesehen
und war sich ein paar Mal durch die Haare gefahren. Nun hielt er sich ein Stück
hinter ihr, sie hörte kaum seine Schritte.
Halb hatte sie den Heimweg schon geschafft und fast dachte sie, er
würde sie diesmal vielleicht doch in Ruhe lassen, sich vielleicht nicht trauen,
sie anzusprechen – aber da holte er auch schon auf und war an der nächsten Ecke
neben ihr. Sie konnte das Haus ihrer Familie schon sehen, es stand kaum mehr
fünfzig Meter von ihr entfernt.
»Hi, Rico«, sagte Sarah und versuchte, so gleichgültig wie möglich
zu klingen.
»Ich hab dich gesehen«, sagte Rico, er wirkte noch immer sehr
nervös.
»Ja? Wo denn?«
»Wo ist egal – aber ich hab dich mit diesem Kind gesehen.«
»Mit welchem Kind? Meinst du einen meiner Brüder?«
»Na, der Typ aus deiner Klasse, mit dem du in letzter Zeit immer
rumhängst.«
»Hendrik meinst du?« Sarah lächelte. »Der ist kein Kind mehr.«
Rico packte sie am Arm und wirbelte sie zu sich
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