Kinder
über die Unterlippe und das Kinn.
Zwei Männer in grau-weißen Kitteln kontrollierten
den Sitz mehrerer Kabel, die zu dem Körper des Angeketteten führten, eine
ebenfalls mit einem Kittel bekleidete Frau hielt ein Klemmbrett vor sich und
machte sich Notizen. Ab und zu schüttelte sich der junge Mann, vermutlich
durchzuckten ihn Stromstöße, und unablässig rann Speichel aus seinem Mund.
» Mit elektrischem Strom versuchen wir, auch
geistig zurückgebliebenen Probanden größere Lernerfolge zu ermöglichen – leider mit noch überschaubarem Erfolg. «
Damit verließ er den Raum wieder und ging vor der
Kamera her in ein kleines Büro am Ende des Gangs.
» Sie werden in Ihrer täglichen Arbeit eher von
theoretischen Unterweisungen in Gruppendynamik und Psychologie profitieren,
aber im Labor werden die Grundlagen gelegt. Hier betreiben wir Forschung, um
Ihnen später wirksame Ratschläge an die Hand geben zu können – um Ihnen helfen zu können, indem wir Sie die Funktion des
menschlichen Gehirns, des Gedächtnisses, ja: auch der Seele verstehen lehren. «
Er stellte sich hinter einen Schreibtisch in dem
Büro, nahm das Buch, das vor ihm lag, und hielt es in die Kamera. » Paedaea « , stand auf dem Titelblatt, und
das Ganze wirkte mit seinem billig aussehenden Einband aus graugrünem Karton
eher wie eine umfangreiche Dissertation.
» Dieser Leitfaden soll Ihnen helfen, unsere Ziele
zu unterstützen. Er soll Sie dazu befähigen, eine Elite zu formen, die unsere
Zukunft sein wird. Dazu müssen Sie mit gutem Beispiel vorangehen: müssen
willensstark sein und Ihre Forderungen den Schülern gegenüber klar und
kompromisslos vertreten. Sie müssen die Starken fordern und fördern – und dürfen nicht daran scheitern, wenn Sie einzelne Schwache auf
dem Weg zurücklassen müssen. Halten Sie sich immer das große Ziel vor Augen – und die Tatsache, dass wir für Sie den Boden bereiten und die
Forschung vorantreiben. Hier und an anderen Orten. Lassen Sie all das hier
nicht vergeblich gewesen sein. «
Während der letzten Appelle hatte die Kamera
langsam auf das Gesicht des Vorsitzenden gezoomt. Nun füllte es das Bild fast
ganz aus, und die Augen blickten stechend in die Kamera.
» Danke für Ihre Aufmerksamkeit. «
Der Bildschirm wurde dunkel, und Franz Moeller
drückte mit wehmütigem Lächeln den Knopf für das Öffnen der DVD -Schublade.
Kapitel zehn
Fast eine Woche verging, bis sie wieder Tritt gefasst
hatten. Annette und Rainer Pietsch waren zunächst am Boden zerstört, als sie
vom Tod ihres wichtigsten Verbündeten erfuhren, des Kripobeamten Stefan Mertes.
Und kurz schien es, als würde ihnen sein Tod vollends den Boden unter den Füßen
wegziehen – nachdem sie gerade erst eine ganze Reihe von Nackenschlägen hatten
aushalten müssen.
Dann stellte sich Trotz ein, Wut und der Wunsch, sich nie wieder so
ohnmächtig zu fühlen wie zuletzt. Außerdem hatten ja einige der Eltern, deren
Kinder in der Vulkaneifel gestorben waren, ihre Unterstützung zugesagt – also
bestand noch Hoffnung, dass sich alles auch ohne Mertes finden konnte.
»Er soll wenigstens nicht umsonst gestorben sein«, sagte Annette
Pietsch am fünften Abend, und damit war endgültig klar, dass sie ihren Plan
fortführen würden.
Danach redeten sie mit den Kindern.
Sarah ging es inzwischen so gut, dass sie wieder in die Schule gehen
konnte – ihr eröffneten sie den ganzen Plan und baten sie, sich zum Schein allem
zu fügen, was Franz Moeller in Geschichte oder Mathe von den Schülern verlangte.
Außerdem sollte sie ihre Eltern über alles auf dem Laufenden halten, was ihr am
Unterricht der Moellers als interessant auffiel.
Lukas brachten sie dazu, ihnen alles zu erzählen, was er am Morgen
von Kevins Tod hatte mitansehen müssen. Erst tat er sich schwer, dann erzählten
sie ihm, dass sie von Benjamins Mutter ohnehin schon alles wussten – und
schließlich brachen bei dem Jungen alle Dämme. Er erzählte, weinte sich aus, und
hinterher schien er erleichtert, endlich alles losgeworden zu sein. Zwar schien
ihn noch irgendetwas zu beschäftigen, das er ihnen im Moment noch nicht
erzählen wollte – aber das Schlimmste hatte er offenbar hinter sich. Danach
baten sie auch ihn, sich einfach auf alles einzulassen, was seine
Klassenlehrerin Rosemarie Moeller vorschlug – sie seien, so versicherten sie
ihm, inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass sie sich in der Lehrerin wohl
getäuscht hatten und dass die Spannungen zwischen ihnen und
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