Kinder
Lahn auch in einem
anderen Bundesland befand, beobachtete er die Arbeit der hessischen Kollegen
sozusagen als Gast.
Er hatte Mertes ganz gut gekannt und auch gemocht, und ein bisschen
nahm er es seinem Vorgesetzten übel, dass er ausgerechnet ihn nach Limburg
entsandt hatte. Der Kollege war nachts vom Autobahnviadukt hinunter in die Lahn
gestürzt, er war mit seinem Wagen von der Fahrbahn abgekommen und hatte die
Leitplanke durchbrochen. Auf der Autobahn waren mehrere Bremsspuren gefunden
worden, aber einen nachvollziehbaren Unfallhergang konnte man aus ihnen nicht
rekonstruieren.
Das Autowrack war übel zugerichtet, Mertes ebenfalls, und es grenzte
fast an ein Wunder, dass die Kollegen noch überraschend viele Details
feststellen konnten. Nichts davon brachte sie allerdings wirklich weiter. Einen
Zusammenstoß schien es oben auf dem Viadukt nicht gegeben zu haben: Jedenfalls
konnten die Techniker am Wrack im Fluss keine fremden Lackspuren nachweisen.
Allerdings hatte Mertes noch Alkohol im Blut, und es sah ganz danach
aus, als sei er einfach so mit dem Wagen von der Brücke gestürzt, nicht ganz
nüchtern und nur kurz nachdem ihm sein Chef ordentlich den Kopf gewaschen und
ihn bis auf Weiteres beurlaubt hatte.
Es hatten sich Leute schon wegen kleinerer Probleme das Leben
genommen.
Gegen vier Uhr früh schreckte Ursel Weber wieder auf. Sie
wischte sich über die Augen und horchte. Hatte sie sich den Schrei nur
eingebildet? Dann hörte sie Benjamin erneut, und sie tappte hinüber ins
Kinderzimmer.
Der Junge lag verkehrt herum, die Bettdecke hatte er sich vom Leib
gestrampelt, nun war sie auf den Fußboden gerutscht. Benjamin lag auf dem
Rücken, stöhnte, warf seinen Kopf hin und her, dann plötzlich riss er die Augen
auf, starrte an die Zimmerdecke und begann zu zittern.
»Ruhig, Benjamin, ruhig«, sagte seine Mutter und ging vor dem Bett
in die Hocke. »Alles ist gut, mein Schatz.«
Benjamin sah panisch um sich, als wolle er herausfinden, woher die
Stimme kam. Dann entdeckte er seine Mutter und erstarrte.
»Benjamin, was ist denn mit dir?«
Der Junge öffnete den Mund, schloss ihn wieder, dann deutete er an
seiner Mutter vorbei auf die Tür, und seine Augen weiteten sich.
Ursel Weber drehte sich erschrocken um, aber da war nichts: Die Tür
stand halb offen, und der Flur lag tiefschwarz dahinter.
Als sie sich wieder Benjamin zuwandte, hatte der schon die Augen
geschlossen und war wieder zurück auf sein Kissen gesunken. Eine Zeit lang
blieb Ursel Weber noch an seinem Bett sitzen, dann stand sie auf. Sie stützte
sich am Bettrahmen ab, und das Holz ächzte ein wenig.
Sofort war Benjamin wieder wach. Er schlug die Augen auf, sah seine
Mutter an, dann begann er leise zu weinen. Ursel Weber kniete sich wieder hin
und nahm ihren Jungen in die Arme.
So saßen sie gut eine Stunde. Kurz nach halb sechs hörte Benjamin
schießlich auf zu weinen. Er machte sich von seiner Mutter los, setzte sich auf – und redete sich endlich alles von der Seele.
Endlich hatte die Familie wieder zueinandergefunden.
Lukas, Michael und Sarah hatten sich ausgesprochen, und auch die
Eltern redeten offen über ihre Ängste und die überwundenen Zweifel – endlich
schien zwischen ihnen wieder Vertrauen zu herrschen.
Als die Kinder eingeschlafen waren, diskutierten Annette und Rainer
Pietsch bis tief in die Nacht – nun ging es erneut um das Ehepaar Moeller, und
darum, was sie gegen die beiden unternehmen konnten. Sie hatten keinen Zweifel
daran, dass sie einige ihrer jüngsten Probleme zumindest indirekt auch den
beiden Lehrern zu verdanken hatten, und trotz Sarahs Aussage zu Rico und seinen
Freunden war klar, dass ihr Ruf in der ganzen Stadt zu stark ramponiert war, um
mit Anschuldigungen gegen Franz und Rosemarie Moeller durchzukommen.
Sie mussten ihnen eine Falle stellen und sie dazu bringen, sich
selbst zu entlarven. Wenn sie es irgendwie schaffen konnten, dass Franz Moeller
vor Zeugen ebenso offen über seine Methoden redete wie an jenem Tag, als Rektor
Wehling das Besprechungszimmer verlassen hatte …
Doch wie konnte eine Falle für das Ehepaar Moeller aussehen?
Zwischendurch hatten sie immer wieder versucht, Kommissar Mertes zu
erreichen, den sie unbedingt mit dabeihaben wollten – doch dort ging nur der
Anrufbeantworter ran. Sie hinterließen Nachrichten, aber Mertes rief nicht
zurück.
Schließlich stand ihr Plan. In den nächsten Tagen würden sie einige
Telefonate führen müssen, und wenn alles klappte wie
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