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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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anzusprechen, ohne ständig den
Blick abwenden und auf Merkhilfen schielen zu müssen. Der Vorsitzende hatte sich
seit damals stark verändert und war kaum wiederzuerkennen, nicht nur wegen des
Umstands, dass er vor dreißig Jahren noch keinen Rollstuhl brauchte.
    » Wir verbinden mit unseren Zielen keine
politischen Absichten, und wer sich uns anschließt, legt seinen Eid auf unsere
Grundsatzerklärung ab, die neben anderen Punkten auch diesen klar regelt. Wir
fördern den Leistungsgedanken und formen dadurch Charaktere, die führen können,
die von sich und anderen alles fordern und die mit heißem Herzen, kühlem
Verstand und langem Atem auch ambitionierte Projekte anpacken. Auch wir selbst
wissen, dass wir unsere ehrgeizigen Ziele nur mit langem Atem erreichen können – und mit einer Mischung aus modernen Methoden und den neuesten
Erkenntnissen der Forschung. «
    Er wandte sich um und ging zu der Tür hin, die in
das Gebäude führte. Sie stand offen, und dahinter war im Dunkeln zunächst
nichts zu sehen.
    » Ich werde Ihnen nun zeigen, wie wir das
verfügbare wissenschaftliche Wissen erweitern und unsere theoretische Arbeit
mit … sagen wir: praktischen Übungen abrunden. «
    Er winkte die Kamera näher heran und tauchte dann
ins Dunkel des Gebäudeinneren ein. Kurz blieb der Bildschirm dunkelgrau, dann
pegelte sich die Kamera auf die neuen Lichtverhältnisse ein: Der Mann stand in
einem Treppenhaus, in das von irgendwo oberhalb des Bildausschnitts stark
gedämpftes Tageslicht drang. Er ging zu einer Gittertür, zog sie mit Schwung
zur Seite und stieg in einen alt wirkenden Aufzug, die Kamera immer dicht
hinter sich.
    Die Fahrt ging offenbar abwärts, und nach einer
Weile war das unterirdische Ziel erreicht. Das Ächzen und Rattern des Aufzugs
verebbte, und im Hintergrund waren nun andere Geräusche zu hören. Menschliche
Stimmen, die Unverständliches riefen, die wimmerten oder weinten.
    » Hier in unserem Labor entwickeln wir die
Grundlagen für Ihre Arbeit, hier erproben wir neue Ansätze – damit Sie mit Ihren Schülern auf vertrautem Terrain bleiben
können und keine unnötigen Risiken eingehen müssen. «
    Er öffnete die Tür und trat aus dem Aufzug auf
einen Flur. Die Kamera folgte ihm und schwenkte nach rechts und links. In
regelmäßigen Abständen gingen vom Flur Türen ab, und Männer und Frauen in
grau-weiß gemusterten Kitteln eilten geschäftig den Flur entlang oder zwischen
den einzelnen Türen hin und her. Dabei achtete die Kamera darauf, dass sie vom
Sprecher abgesehen keine Gesichter filmte, sondern den oberen Bildrand immer
höchstens bis zum Halsansatz hinaufreichen ließ.
    Der Mann ging nun langsam den Flur entlang und
erklärte dabei den theoretischen Unterbau von Paedaea. Und während er im
Plauderton von Platon und Aristoteles erzählte, die das menschliche Denk- und
Merkvermögen mit einer Schreibtafel verglichen, führte er die Kamera an
mehreren Türen vorbei, ohne dass die Kamera den Blick durch eine der Türen
warf. Aber auch so war am jeweiligen Bildrand kurz zu sehen, wie sich mehrere
Männer und Frauen in Kitteln an anderen, nahezu unbekleideten Personen zu
schaffen machten.
    Der Vorsitzende blieb schließlich neben einer der
Türen stehen und wandte sich um.
    » Der englische Philosoph John Locke war im 17. Jahrhundert davon überzeugt, dass Menschen mit einem Gehirn geboren werden, das
einem weißen Papier gleicht. Erst das Leben schreibt das Wissen auf dieses
Papier – oder eben auf diese Tafel, die anfangs leer
ist und später voller Informationen, Überzeugungen und intellektueller oder
mentaler Fähigkeiten. «
    Er machte eine Pause und schaute kurz durch die
Tür, als warte er auf den richtigen Moment. Dann fuhr er fort: » Aber wir gehen weiter als Locke – wir
wollen die einmal durch die Erfahrungen aus Kindheit und Jugend beschriebene
Tafel wieder säubern. Wir wollen unnützes oder ineffektiv angehäuftes Wissen
gewissermaßen wegwischen, und wir wollen dadurch Platz schaffen für Neues,
Nützliches. «
    Damit ging er durch die Tür und betrat den Raum.
Offenbar roch es nicht besonders angenehm, denn der Mann hielt kurz den Atem an
und schloss die Augen. Die Kamera fing eine gespenstische Szene ein: ein junger
Mann hing vornübergebeugt, seine Arme und Beine mit Ketten an der Wand
befestigt, ein Ledergurt um die Hüfte fixierte den Körper und hielt ihn
aufrecht. Der Mann stierte mit offenen Augen auf den Boden, sein Mund stand
halb offen und Speichel rann ihm

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