Kinder
leiten.
Positionen, die Ihnen viel Renommee, viel Geld und ein selbstbestimmtes Leben
bieten – aber eben auch Positionen, die von Ihnen einen starken Willen
erfordern. Positionen, in denen Sie sich nicht zum Affen machen lassen dürfen,
wenn Sie bestehen wollen.«
Der hämische Seitenblick des Lehrers hatte Sören die Schamröte ins
Gesicht getrieben.
»Und warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil ich in dieser Stunde
nur mal eben ins Lehrerzimmer gegangen bin und Ihnen sogar noch Aufgaben
hinterlassen habe, damit Sie sich nicht selbst überlegen müssen, mit welchem
Stoff Sie sich beschäftigen könnten. Ich komme zurück und muss draußen auf dem
Flur hören, wie hier drin herumgequatscht wird, wie Sie sich aus lauter
Langeweile schale Witze erzählen und sich zum Fußball oder zum Skaten
verabreden. Ist denn keine Einzige, kein Einziger von Ihnen auf die Idee
gekommen, sich selbst eine neue Aufgabe zu suchen und sie in Ruhe zu erledigen?
Hat denn niemand von Ihnen genug Eigenständigkeit, seinen Weg auch ohne detaillierte
Schritt-für-Schritt-Anleitung zu gehen?«
Alle hatten wie begossene Pudel vor dem Lehrer gesessen.
»Ich bin enttäuscht von Ihnen, meine Damen und Herren. Nicht von ihm …« Moeller hatte Sören mit einer abfälligen Geste bedacht. »Aber von Ihnen!
Wollen Sie wirklich noch immer so werden wie er hier? Cool, lässig, meinetwegen – aber schaffen wird er mit dieser Art nicht viel in seinem Leben. Was soll so
einer denn auf die Beine stellen? Aufbauen, voranbringen? Ich frage Sie: Ist
Ihr Anspruch nicht doch etwas höher?«
Nach einer kleinen Pause hatte sich schließlich Carina, die
Klassensprecherin, ein Herz gefasst: »Aber Sören ist kein Loser, er ist ein
guter Schüler!«
Nachlässig hatte Franz Moeller ihr zugelächelt, dann hatte er
gesagt: »Wenn es Ihnen reicht, nur gut zu sein, liebe Carina, dann hätten Sie
nicht unbedingt aufs Gymnasium gehen müssen.«
Wie sie da vor dem Kindergrab stand,
mit hängenden Schultern und geneigtem Kopf, wirkte die Frau deutlich älter, als
sie tatsächlich war.
Das Grab war mit einem hellen, noch neu wirkenden
Holzkreuz markiert, auf der Querstrebe stand eingeschnitzt: » Kai Wirsching, geb. 15.4.1995, gest. 9.4.2010 « . In der Mitte der rechteckigen Fläche, deren Rand von weißen
Kieselsteinen markiert wurde, steckte eine Plastikvase in der dunklen Erde, aus
der frische Schnittblumen ragten. Das grüne Papier, in dem die Blumen
eingeschlagen gewesen waren, hielt die Frau noch in der Hand.
Still und stumm stand sie da, blickte auf das
Kreuz und knetete das Papier in ihren Händen, bis sie es zu einem steinharten
Klumpen zusammengedrückt hatte.
Die sich nähernden Schritte auf dem Weg hinter
ihr bemerkte sie erst nicht. Dann aber drehte sie sich langsam um und sah in
die traurigen Augen eines Mannes, dem sie in den Wochen nach Kais Tod bittere
Vorwürfe gemacht hatte.
Kommissar Mertes nickte Anna Wirsching kurz zu,
dann stellte er sich wortlos neben sie vor das Grab ihres Sohnes.
Er hatte die Frau erst gesehen, als er um die
Pelmer Kirche herumgegangen war, und er wollte ihr eigentlich gar nicht
begegnen. Etwa einmal die Woche kam er hierher und zu den Gräbern der anderen
Kinder in den umliegenden Orten, und er versuchte es so einzurichten, dass er
möglichst wenigen Leuten und vor allem nicht den trauernden Eltern begegnete – aber heute hatte es eben nicht geklappt, und er hätte es schäbig
gefunden, nun einfach wieder wegzugehen, ohne sich dem Anblick der Gräber und
den vorwurfsvollen Blicken der trauernden Frau zu stellen.
Er sah hinüber zu der Bahnstrecke, auf der noch immer
der alte Triebwagen verkehrte. Er hob den Blick und schaute zu dem Hang, auf
dem die Kasselburg thronte. Dann spürte er den Seitenblick von Anna Wirsching
und sah wieder auf das Grab vor sich hinunter.
Diese Frau hatte ihren einzigen Sohn verloren, und
die Arbeit von Mertes und seinen Kollegen in der Soko Cäcilienberg hatte nur
das ergeben, was für viele von Anfang an offensichtlich war: Im Internat
Cäcilienberg waren Schüler verunglückt, und andere hatten sich umgebracht, weil
sie entweder mit dem Leistungsdruck nicht fertiggeworden waren – oder weil sie eine depressive Veranlagung oder einfach nur
Probleme mit der Pubertät hatten.
Dass Anna Wirsching diese Auflösung nicht
akzeptierte, war keine Überraschung. Aber auch Mertes ließ die Geschichte keine
Ruhe. Und als er einige Zeit nach dem Tod der Kinder vom Internat aus angerufen
worden
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