Kinder
Sören.
Langsam und lautlos öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer. Rainer
Pietsch musterte das Bett seiner Tochter, sie schien tief und fest zu schlafen.
Mit einem Lächeln zog er die Tür wieder zu und ging selbst zu Bett.
Sören Karrer konnte nicht schlafen. Er war es nicht
gewohnt, von Lehrern nicht gemocht zu werden, und dass ihn Franz Moeller nicht
nur hart angegangen war, sondern vor der ganzen Klasse auch unmöglich gemacht
hatte, machte ihm schwer zu schaffen.
Lange hatte er sich in seinem Bett herumgewälzt, dann gab er auf. Er
schlich hinaus auf den Flur, linste durch die offenstehende Tür des
Elternschlafzimmers: Seine Mutter lag schräg über beide Betthälften
ausgestreckt und schnarchte leise, der Vater kam wegen seines Jobs derzeit nur
über die Wochenenden nach Hause.
Sören schlich sich zur Wohnungstür, eine Runde um den Block würde
ihm wegen der kühlen Nachtluft sicher helfen, nachher doch noch einzuschlafen.
Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu, zog die Stiefel auf der Treppe an und
ging nach unten.
Zwei Straßenecken weiter fiel ihm ein, dass er in Richtung der
Straße unterwegs war, in der die Moellers wohnten. Er hatte die beiden
gegoogelt und war darauf gestoßen, dass sie sich nicht allzu weit von ihm
entfernt eingemietet hatten. Also ging er weiter, und etwa fünfzehn Minuten
später stand er vor dem Haus, das die Suchmaschine genannt hatte. Er ging zum
Eingang des Mehrfamilienhauses: Rosemarie und Franz Moeller schienen im zweiten
Stock zu wohnen. Er schlenderte zur anderen Straßenseite hinüber und nahm auf
einem Betonkasten Platz, von dem aus er bequem zu den Fenstern im zweiten Stock
hinaufsehen konnte.
Hinter einem Fenster leuchtete ein bläulicher Schimmer, vermutlich
saß einer der Lehrer am Computer. Im Nebenraum schien ein eher gelbliches Licht
in die Nacht hinaus. Lange tat sich gar nichts, dann ging im gelb ausgeleuchteten
Zimmer eine Silhouette am Fenster vorbei, wurde größer und etwas unschärfer –
da schien jemand auf eine Lichtquelle in der Zimmermitte zuzugehen. Kurz danach
kam eine zweite Silhouette dazu, die beiden Gestalten schienen eine Art
Gymnastik auszuüben, vielleicht Yoga oder etwas in der Art.
Dann verschwand eine Silhouette, die andere führte weiterhin
ähnliche Bewegungen aus.
Hinter einem dritten Fenster, halb verdeckt von einem Vorhang und deshalb
von Sören unbemerkt, war für kurze Zeit ein blasses Gesicht hinter der dunklen
Scheibe zu sehen.
Die turnende Silhouette verharrte nun immer länger in unbequem
aussehenden Posen, und der Übergang von der einen Stellung in die andere ging
fließend und langsam vor sich. Sören grinste: Die beiden sind Yoga-Fans und
wissen nichts Besseres mit ihrer Nacht anzufangen, als Gymnastik zu treiben.
Das müsste sich doch nutzen lassen, um die Moellers bei den Mitschülern
lächerlich zu machen. Vielleicht konnte er sich damit gegen die aggressive,
erniedrigende Art seines Lehrers wehren.
Sören schaute auf seine Armbanduhr: halb eins durch. Er schüttelte
den Kopf: Wie durchgeknallt musste man sein, wenn man mitten in der Nacht
Gymnastik machte?
»Na, interessant?«
Sören zuckte zusammen und erstarrte: Die Stimme schien direkt aus
seinem Kopf zu kommen. Dann fiel ihm auf, dass heißer Atem sein Ohr streifte,
und die Stimme sprach weiter.
»Mein lieber Herr Karrer, wenn Sie sich einen Vorteil davon
versprechen, uns nachts zu beobachten, muss ich Sie enttäuschen.«
Franz Moeller stand direkt hinter ihm, an den Betonkasten gelehnt,
auf dem Sören saß, und zischte ihm ins Ohr. Sören war wie gelähmt, er sah
weiterhin starr hinauf zum zweiten Stock.
»Nehmen wir mal an, Sie suchen nachts nach irgendwelchen
Informationen, mit denen Sie uns vor Ihren Mitschülern als skurril oder seltsam
oder lächerlich erscheinen lassen könnten. Dann gehen Sie also in den nächsten
Tagen in der Schule von Tisch zu Tisch und erzählen irgendetwas. Da würde ich
mich als Mitschüler allerdings fragen, ob nicht womöglich der gute Sören einen
an der Klatsche hat, wenn er mitten in der Nacht vor der Wohnung seines Lehrers
herumlungert und durchs Fenster glotzt. Außerdem sind Sie in der Klasse ohnehin
zum Abschuss freigegeben, ich nehme an, das ist Ihnen schon aufgefallen. Mir
scheint es, als würde Sie niemand mehr so großartig finden wie früher. Und
falls doch mal jemand der anderen mit Ihnen redet oder Ihnen Hilfe anbietet,
würde ich darauf tippen, dass das aus purem Mitleid geschieht.«
Sören zitterte
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