Kinder
war, ohne dass sich am anderen Ende jemand gemeldet hätte, war Mertes
sofort wieder so aufgewühlt wie zu Beginn seiner Ermittlungen.
Er hatte herausfinden können, dass er vom Apparat
des Rektors aus angerufen worden war – doch der
Rektor war verschwunden und blieb es bis zum heutigen Tag. Auf seinem Laptop
hatte er einen Abschiedsbrief getippt, aber nicht ausgedruckt – und auf dem Boden vor dem Schreibtisch lag ein zerbrochenes
Weinglas, umgeben von einem dunklen Weinflecken, der wie Blut wirkte.
Dass Muhr spurlos verschwand, war ein weiteres
merkwürdiges Detail in diesem merkwürdigen Fall, aber es konnte natürlich
durchaus sein, dass der Leiter des Internats nach all den tragischen
Zwischenfällen nicht mehr leben wollte oder – seine
Leiche war bisher nicht gefunden worden – dass er
irgendwo ein neues Leben beginnen wollte.
Kapitel zwei
Rektor Johannes Wehling drückte auf den Knopf seiner
Espressomaschine und beobachtete, wie nach dem laut knarzenden Mahlgeräusch die
schaumige dunkelbraune Brühe in die Tasse lief. Ein würziger Duft breitete sich
in seinem Büro aus, und vorsichtig balancierte er das kleine Tässchen zu seinem
Schreibtisch hinüber. Er rührte den Zucker behutsam ein, leckte die Crema ab,
die an dem kleinen Löffel hängen blieb. Dann schnüffelte er noch einmal
genüsslich an dem Espresso und kippte ihn schließlich in einem Schluck
hinunter.
Mit geschlossenen Augen blieb er kurz so sitzen: die Tasse in der
einen Hand, die Untertasse mit dem Löffel in der anderen, den Oberkörper in den
Sessel gelehnt, den Kopf in den Nacken gelegt.
Dann ging ein Ruck durch ihn, er stellte alles beiseite und nahm den
Brief zur Hand, den er heute schon mehrmals gelesen hatte: Die Elternvertreter
der Klassen 9c und 6d hatten sich über Rosemarie und Franz Moeller beschwert
und baten ihn, die beiden Kollegen zur Ordnung zu rufen.
Das klang nach Ärger, und er hatte absolut keine Lust dazu, sich mit
den beiden neuen Lehrern anzulegen. Zwar beruhigte er die anderen Kollegen
immer wieder und versuchte ihnen ihre Bedenken gegen die Moellers auszureden –
aber so ganz geheuer waren ihm die beiden selbst nicht.
Derweil wurde Franz Moeller von der Klasse 9c erwartet.
»Er kommt!«, rief Hendrik und beeilte sich, seinen Platz in der
zweiten Reihe zu erreichen. Schlagartig verstummten alle Gespräche, und Sarah,
die noch ermunternd auf Sören eingeredet hatte, hockte sich wie die meisten
anderen kerzengerade auf ihren Stuhl.
Sören lümmelte fast wie sonst auf seinem Platz, allerdings hatte er
feuchte Hände, er wirkte blass und sein Blick huschte unstet im Zimmer umher.
Als Franz Moeller den Raum betrat und seine Tasche auf dem Lehrerpult ablegte,
ließ er sich demonstrativ noch ein wenig tiefer in den Stuhl sinken.
Moeller bemerkte es, lächelte ihn aber nur mitleidig an.
Der Schüler räusperte sich, aber es half nicht: Seine Augen bekamen
einen verräterischen Schimmer.
Kevin und Lukas gingen wieder gemeinsam in die Stadt.
Diesmal hatte Lukas seiner Mutter schon am Morgen Bescheid gegeben,
und weil Michael und Sarah Nachmittagsunterricht hatten, sollte ohnehin erst am
Abend gemeinsam warm gegessen werden. Als Lukas ankündigte, dass er danach noch
mit zu Kevin nach Hause wolle, war seine Mutter zwar erstaunt über die so
plötzlich entstandene Freundschaft – aber letztendlich war es ihr ganz recht,
wenn Lukas mehr Kontakt zu seinen Klassenkameraden bekam. Er war zwar kein
Einzelgänger, aber zu Treffen mit anderen Kindern aus der 6d kam es höchstens
alle zwei, drei Wochen.
Fast hätte Lukas die Verabredung mit Kevin gar nichts genützt, denn
Marius und seine Kumpels hatten diesmal besser aufgepasst: Sie folgten Kevin
und Lukas aus dem Schulhof und wollten gerade zu ihnen aufschließen, als von
hinten die Stimme von Rosemarie Moeller zu hören war.
»Hallo, Marius«, sagte sie knapp und gönnte sich ein leichtes
Grinsen, als die Jungs mitten in der Bewegung erstarrten, »musst du nicht in
die andere Richtung?«
Marius hatte noch etwas Unverständliches gestammelt, war dann aber
eilig mit seinen Begleitern umgekehrt. Rosemarie Moeller ging noch ein Stück
neben Kevin und Lukas her, und sie plauderte sogar ein bisschen mit den beiden,
aber als sie sich an der nächsten Kreuzung verabschiedete, war Lukas doch froh:
Er hatte Angst vor dieser Frau.
Kurz sah er sich noch um, aber Marius und die anderen waren
nirgendwo zu sehen. Erleichtert schloss er wieder zu Kevin auf,
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