Kinder
mal!«, sagte er, hielt Sarah ein Stück Kreide hin,
ging hinüber zum Fenster, lehnte sich an das Fensterbrett und deutete auf die
leere Tafel.
Sarah sah ihn an und wartete.
»Sie wissen nicht, was Sie nun machen sollen, stimmt’s?«
Sarah nickte und schluckte.
»Das ist mir klar, und woher sollen Sie es auch wissen?«
Sarah schwieg.
»Bisher habe ich es Ihnen ja auch noch nicht gesagt.«
Sarah wartete. Moeller musterte sie, schwieg und gestattete sich mit
der Zeit ein immer breiter werdendes Lächeln.
»Sehen Sie?«, fragte er schließlich. »Genau darum haben Sie vorhin
die Sechs bekommen.«
Sarah öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder – sie brachte keinen
Laut heraus. Irgendwann musste diese Quälerei doch ein Ende haben!
»Sie sollten eine mathematische Aufgabe lösen, die wir noch nicht im
Unterricht behandelt hatten. Und das konnten Sie nicht.«
Sarah sah ihn fragend an.
»Und warum konnten Sie das nicht?«
Sarah zuckte mit den Schultern. Sofort hatte sie Angst, damit wieder
einen entscheidenden Fehler begangen zu haben.
»Na, endlich: eine Regung!« Moeller wirkte nicht böse, seine Stimme
klang jetzt sogar einigermaßen freundlich. »Sie konnten die neue Aufgabe nicht
lösen, weil Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.«
»Hausaufgaben? Welche Hausaufgaben denn?«, brachte Sarah schließlich
hervor.
»Die Hausaufgaben, die auf die heutige Stunde zu machen waren.«
»Sie haben …« Sarah brach ab.
»Ja?«, hakte Moeller nach.
Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen: »Sie haben uns aber keine
Hausaufgabe aufgegeben.«
»Das ist so nicht ganz richtig«, korrigierte Moeller, aber es war
nicht zu übersehen, dass das Gespräch so verlief, wie er es sich erhofft hatte.
Er legte wieder eine Pause ein und schien es zu genießen, dass Sarah völlig
verunsichert zwischen ihm und ihren Mitschülern hin und her sah.
»Gut, Sarah, gehen wir noch einen Schritt zurück.«
Sie machte Anstalten, zu ihrem Platz zurückzukehren, aber Moeller
schüttelte nur kurz den Kopf.
»Sie erinnern sich hoffentlich, was ich Ihnen und den anderen in der
Klasse zum Thema Selbstständigkeit erzählt habe.«
Sarah nickte.
»Können Sie es für mich noch einmal kurz zusammenfassen, bitte?«
»Wir … Sie meinten, wir sollten mehr Eigeninitiative ergreifen.«
»Und was noch?«
»Sie haben betont, dass wir für uns selbst verantwortlich sind und
nicht darauf warten sollen, bis man uns alles auf dem Silbertablett serviert.«
»Sehr gut«, nickte Moeller zufrieden. »Das war, wenn ich mich
richtig erinnere, sogar genau mein Wortlaut. Wollen wir mal hoffen, dass Sie
das nicht nur auswendig gelernt, sondern auch verinnerlicht haben.«
Sarah sah ihn an und wartete, was als Nächstes kommen würde.
»Was ich von Ihnen … nein: was ich für Sie will, ist: Sie sollen
nicht die Schafe sein, sondern die Wölfe – oder meinetwegen mindestens die
Schäfer.«
Moeller wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus. Es war ein
regnerischer Tag, aber liebend gerne wäre Sarah draußen durch die Pfützen
getappt, nur um dieser unerträglichen Situation endlich entfliehen zu können.
»Da draußen«, fuhr Moeller plötzlich fort und schien in irgendeine
weite Ferne zu blicken, »da draußen herrscht Krieg, und auf diesen Krieg will
ich Sie vorbereiten.«
Er schnellte herum, sah kurz in die Runde und quittierte die
verblüfften Gesichter mit einem breiten Grinsen.
»Sie wollen wahrscheinlich alle mal Karriere machen, wollen gutes
Geld verdienen oder die Welt verbessern. Aber wenn Sie das schaffen wollen, müssen
Sie besser sein als andere – was hilft Ihnen die beste Idee, wenn Sie es nicht
bis zu dem Hebel schaffen, mit dem Sie auch tatsächlich etwas in Ihrem Sinne
bewegen können?«
Es war still im Klassenzimmer, alle starrten auf den seltsamen
Lehrer, der da so beseelt von seinem Thema vor ihnen stand. Die plötzlich
losschrillende Pausenglocke ließ die meisten zusammenschrecken, Moeller
allerdings stand unbewegt – und nachdem er bereits einmal alle mit
ausführlichen Strafarbeiten bedacht hatte, die sich mit dem Klingeln ohne seine
Erlaubnis erhoben hatten, blieben nun alle sitzen, wenn auch zähneknirschend.
»Sehen Sie«, sagte er nach einer weiteren kurzen Pause, »Sie sind
schon viel weiter als zu Beginn des Schuljahrs. Keiner von Ihnen steht auf.
Weil Sie die Pausenglocke nicht mehr brauchen, um zu erkennen, ob ein Thema zu
Ende behandelt ist oder nicht.«
Er sah noch einmal in die Runde, dann wandte er
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