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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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vermutlich noch nicht viel
sagen, aber er bezeichnet das Prinzip recht treffend. Sie alle kommen mit unterschiedlichen
Prägungen an diese Schule, die davon abhängen, in welchem Stadtteil Sie
aufwachsen, welchen Beruf Ihre Eltern haben, wie gut oder mäßig Ihre
Verwandtschaft gebildet ist. Das wäre die Tafel mit den Begriffen von vorhin.
Jetzt ist die Tafel wieder leer, und Sie können selbst daraufschreiben, was
Ihnen wichtig ist. Sie können selbst bestimmen, worum sich Ihre Existenz drehen
soll. Sie selbst nehmen Ihr Schicksal in die Hand, Ihre Zukunft, Ihre Karriere – welcher Art auch immer sie sein soll.«
    Moeller sah in die Runde, und Carina kam sein Blick etwas flackernd
vor, als sei er selbst ganz ergriffen von seinem Monolog. Die meisten Schüler
hingen geradezu an seinen Lippen: Der spröde Moeller, streng und skurril, offenbarte
eine Leidenschaft, die sie offenbar mitriss. Und alles klang, als meine er es
nur gut mit ihnen.
    Sogar Sören, den Moeller bei jeder sich bietenden Gelegenheit
erniedrigte, hörte aufmerksam zu.
    »Lassen Sie uns Ihre Tafel neu beschreiben!«
    Er sah noch einmal jedem einzelnen Schüler in die Augen. Als er
zwischendurch auch Sören fixierte, spielte ein deutlich erkennbarer
verächtlicher Ausdruck um seinen Mund. Dann sah er, viel ermutigender und
freundlicher, zum nächsten Schüler hin.
    »Helfen Sie mir dabei?«
    Erst nickten einige schüchtern, dann war vereinzelt ein »Ja« zu
hören, und schließlich kam allmählich aus allen Stuhlreihen zustimmendes
Gemurmel auf.
    »Gut«, sagte Moeller schließlich. »Dann lassen Sie uns das anpacken.
Gleich, nachdem Sie jetzt noch Ihre Pause nachgeholt haben.«
    Zimmermann, der am Ende des Flurs nervös darauf wartete, dass
Moeller endlich seine Klasse freigab, schaute irritiert hoch, als die Tür
aufschwang und Beifall aus der Klasse zu hören war. Moeller drehte sich noch
einmal zur Klasse um und bedankte sich mit einem Diener für den anhaltenden
Applaus.
    Michael kramte immer hektischer in seiner Schultasche,
aber die Hausaufgaben waren nicht zu finden. Er wühlte noch einmal alles durch,
war er sich doch sicher, dass er das Arbeitsblatt gestern Abend noch ins
Geschichtsheft gesteckt hatte – doch jetzt fehlte es. Als er endlich aufgab und
sich melden wollte, um keine Strafe zu bekommen, sondern die Chance, die Arbeit
nachzuholen, stand Rosemarie Moeller schon neben ihm und sah ihn stirnrunzelnd
an.
    »Ich …«, begann Michael, verhaspelte sich aber vor lauter Schreck
und blieb schließlich stumm sitzen, schuldbewusst zur Lehrerin hinaufblickend.
    »Kannst du mir bitte deine Hausaufgaben zeigen?«, fragte Rosemarie
Moeller.
    »Äh … ich …«
    »Ich nehme an, du kannst sie mir nicht zeigen?«
    Michael sah vor sich auf die Tischplatte und rutschte unruhig auf
seinem Stuhl hin und her.
    »Und warum hast du mir das nicht rechtzeitig gesagt?«
    »Aber … ich wollte doch gerade …«, machte Michael noch einen
Versuch, aber dann sank er in sich zusammen und wartete einfach darauf, dass er
seine Strafarbeit bekam.
    »Schade«, sagte Rosemarie Moeller, »bisher habe ich eigentlich große
Stücke auf dich gehalten.« Sie ging wieder zur Tafel nach vorn und schrieb
rechts oben eine Kombination aus Seitenzahlen und Buchtitel hin. »Das machen
bis morgen alle, die ihre Hausaufgaben für heute nicht erledigt und …« – sie
sah nacheinander Marcella, Petar und Michael an – »die das vor mir
verheimlichen wollten.«
    Michael nahm sein Hausaufgabenheft, blätterte die Doppelseite der
aktuellen Woche auf, schrieb die Strafarbeit für morgen hinein. Sie hatten
morgen keinen Unterricht bei Rosemarie Moeller, also würde er die Strafarbeit
und die Hausaufgabe für heute extra ins Lehrerzimmer bringen müssen. Er hob die
Hand und wartete, bis die Lehrerin ihn aufrief.
    »Ach, Michael«, sagte sie und nickte ihm zu, »willst du mich darauf
hinweisen, dass ihr morgen gar nicht bei mir Unterricht habt?«
    »Nein«, sagte der Junge und spürte, dass seine Ohren knallrot
anliefen, »aber ich bräuchte das Arbeitsblatt bitte noch einmal.«
    Rosemarie Moeller sah ihn fragend an, und Michael nahm all seinen
Mut zusammen, um nicht alle Vorwürfe unwidersprochen auf sich sitzen zu lassen.
    »Ich weiß, dass ich die Hausaufgabe gemacht habe. Ich bin mir sicher,
dass ich das Arbeitsblatt gestern Abend in mein Heft gesteckt habe – und jetzt
ist es weg.«
    »Du suchst immer noch nach einer Ausrede?«, fragte die Lehrerin mit
überraschter

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