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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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sich wieder Sarah
zu.
    »Aber um heute keine Sechs zu bekommen, liebe Sarah, hätten Sie noch
etwas weiter sein müssen.«
    Ärger stieg in Sarah auf. Wegen der Sechs – solche Noten war sie
bisher nicht gewöhnt – und wegen des geheimnisvollen Getues von Franz Moeller,
das ihr inzwischen gewaltig auf die Nerven ging.
    »Sie haben gesagt: ›Wir hatten keine Hausaufgaben auf.‹ Und ich habe
erwidert, dass das so nicht ganz richtig sei. Was schließen Sie daraus?«
    Sarah zuckte mit den Schultern.
    »Na, jetzt stehen Sie doch schon hier vorne, da können Sie sich auch
etwas Mühe geben, oder?«
    Sarah schluckte.
    »Also: was schließen Sie daraus?«
    »Dass Sie dachten, Sie hätten uns Hausaufgaben aufgegeben?«
    Moeller schüttelte den Kopf.
    »Lassen wir Ihren verschrobenen Satzbau mal beiseite – aber da ich
den Unterricht leite, dürfen Sie das, was ich weiß – nicht glaube! – ruhig als
gegeben annehmen.«
    Sarah verstand kein Wort, und das war ihr auch deutlich anzusehen.
    »Ich habe sehr wohl Hausaufgaben für Sie vorbereitet, und ich wollte
sehr wohl, dass Sie diese Hausaufgaben bis zur heutigen Unterrichtsstunde
erledigen.«
    »Aber davon wusste ich nichts!«, protestierte Sarah in einem
anklagenden Ton, den sie insgeheim selbst kindisch fand.
    »So weit gebe ich Ihnen recht«, sagte Moeller unbeeindruckt. »Und
warum wussten Sie nichts davon?«
    »Weil Sie nichts davon gesagt haben.«
    »Das ist die Sichtweise der Schafe, liebe Sarah. Was würden Wölfe
antworten?«
    Sarah zog die Stirn kraus, dann zuckte sie erneut mit den Schultern.
    »Wölfe würden sagen: ›Weil ich Sie nicht danach gefragt habe.‹«
    Sarah dachte fieberhaft nach.
    »Ich hätte Sie also fragen sollen, ob Sie Hausaufgaben für uns
haben?«, brachte sie schließlich hervor.
    Moeller nickte nur und lächelte sie freundlich an. Der hat einen
Knall, schoss es Sarah nur durch den Kopf.
    »Ich hätte Sie also fragen sollen, und weil ich das nicht gemacht
habe, bekomme ich jetzt eine Sechs?«
    »Ja, indirekt: Hätten Sie mich nach der Hausaufgabe gefragt, dann
hätte ich Ihnen die Aufgabe mitgegeben – und hätten Sie die Aufgabe
durchgearbeitet, hätten Sie heute an der Tafel die Lösung gekannt.«
    Sarah stand mit offenem Mund da.
    »Aber, Herr Moeller«, meldete sich Carina zu Wort, die
Klassensprecherin, »woher hätte Sarah denn wissen sollen, dass sie ausgerechnet
an diesem Tag hätte fragen sollen?«
    Moeller lächelte noch immer.
    »Ich habe Ihnen allen zu Beginn des Schuljahres gesagt, dass Sie
davon ausgehen sollten, dass ich nach jeder Mathestunde Hausaufgaben für Sie
haben werde. Und diesmal habe ich das erste Mal darauf verzichtet, die Aufgabe
an die Tafel zu schreiben – das war ein Test, und Sarah hat ihn leider nicht
bestanden.«
    »Aber keiner von uns hat Sie wegen der Hausaufgabe gefragt! Warum
bekommt dann Sarah eine Sechs?«
    »Weil sie dabei erwischt wurde.«
    »Aber das ist ungerecht!«
    »Da ich annehme, dass Sie mit Ihrem Protest nicht erreichen wollen,
dass jeder in dieser Klasse eine Sechs bekommt, weil er oder sie das ebenso
verdient hätte wie Sarah, vermute ich, Sie wollen erreichen, dass Sarahs Sechs
gestrichen wird. Richtig?«
    »Ja, natürlich, alles andere wäre unfair!«
    Moeller lachte kurz auf, dann zog er ein Stofftaschentuch hervor,
schnäuzte sich, steckte das gefaltete Taschentuch wieder weg und sah Carina
nachsichtig an.
    »Unfair? Ich glaube, dieses Wort sollten Sie aus Ihrem Wortschatz
streichen. Da draußen herrscht Krieg, das habe ich gerade erwähnt – und auf
diesen Krieg will ich Sie vorbereiten. Da ist es mit Kuscheln und Loben leider
nicht getan.«
    Carina lehnte sich kopfschüttelnd in ihrem Stuhl zurück, dann sah
sie demonstrativ zur Wanduhr hin: Die große Pause dauerte nur noch ein paar
Minuten.
    Moeller folgte ihrem Blick.
    »Schade um die Pause«, sagte er dann. »Aber lassen Sie uns das hier
noch zu Ende bringen.«
    Er klappte die Tafel auf und wandte sich wieder Sarah zu.
    »So, nun schreiben Sie alles hier an diese leere Tafel, was Ihnen an
guten Eigenschaften einfällt. Alles, was Sie für wichtige
Charaktereigenschaften halten.«
    Sarah stutzte.
    »Na, los!«
    Kurz dachte sie nach, dann begann sie zu schreiben. Moeller drehte
sich zur Klasse um, ließ seinen Blick über die Schüler schweifen. Sie sahen
wütend aus, blickten finster oder frustriert drein, aber alle waren gespannt
bei der Sache – Moeller nickte zufrieden, griff sich ein zweites Stück Kreide
und holte

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