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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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aus.
    »Sören, Sie könnten … nein«, unterbrach er sich sofort wieder und
ließ seinen rechten Arm mitten in der Wurfbewegung verharren. »Nein, Sören, das
mit Ihnen lassen wir mal lieber.«
    Der Junge schluckte, sagte aber nichts. In Moellers
Unterrichtsstunden war der einst so coole, lässige Klassenliebling nur noch ein
Schatten seiner selbst.
    Die Kreide flog im hohen Bogen durch den Raum, im letzten Moment hob
Carina die rechte Hand und fing die Kreide auf.
    »Gut gemacht, Carina«, grinste Moeller. »Kommen Sie bitte zu Sarah
und helfen ihr ein wenig?«
    Carina erhob sich langsam, ging zur Tafel, las einige der Begriffe,
die schon dort standen, dann begann sie ebenfalls zu schreiben.
    Die Glocke zerriss die angespannte Stille erneut, die große Pause
war vorüber, doch Moeller reagierte nicht weiter auf die Störung und
beobachtete die beiden Mädchen, wie sie Begriff um Begriff an die Tafel schrieben
und wie sich die dunkle Schreibfläche immer schneller mit weiß gekritzelten
Buchstaben füllte.
    Nach zwei Minuten ging die Tür auf und Jörg Zimmermann hastete
herein. Als er Moeller sah, der völlig entspannt vorne am Pult stand, blieb er
wie angewurzelt stehen und sah den Kollegen fragend an.
    »Guten Tag, Herr Kollege«, sagte Moeller sanft, »wir sind noch nicht
ganz fertig.«
    »Äh … ich … wir haben jetzt …«
    »Deutsch, ich weiß«, nickte ihm Moeller zu. »Ich würde die Stunde
allerdings gerne noch ein wenig für unser Thema nutzen – wir sind gerade
mittendrin. Was halten Sie davon, wenn Sie die unverhoffte Pause einfach genießen?
Ich kann Ihnen gerne in den nächsten Tagen eine meiner Stunden dafür abtreten.«
    Zimmermann schien mit dem Vorschlag alles andere als einverstanden.
Er stand kurz unschlüssig da, sah zu den Schülern hinüber, dann begehrte er
halbherzig auf: »Nein, Herr Moeller, so geht das nicht. Wir müssen uns auf eine
Klassenarbeit …«
    »Danke, Herr Zimmermann, dass Sie Verständnis haben«, sagte Moeller
ganz ruhig, als habe er Zimmermann gar nicht gehört. »Ich komme nachher zu
Ihnen und dann schauen wir mal, welche Stunde ich Ihnen im Tausch anbieten
kann, ja?«
    Zimmermann öffnete den Mund, schloss ihn wieder.
    »Danke, Herr Zimmermann«, sagte Moeller noch einmal und nickte ihm
auf eine Art zu, die keinen Zweifel daran ließ, dass der Kollege den Raum nun
bitte verlassen sollte.
    Kurz schien Zimmermann zu zögern, dann drehte er sich linkisch um,
ging mit abgehackten Bewegungen zur Tür hinaus und schloss sie auffallend leise
hinter sich.
    Moeller schien ihn bereits vergessen zu haben, noch bevor er sich
zum Gehen gewandt hatte, und las nun, was Carina und Sarah bisher geschrieben
hatten.
    »Das sollte reichen«, sagte er dann. »Danke, Carina, danke, Sarah –
Sie können sich wieder setzen.«
    Er wartete, bis die beiden Mädchen wieder Platz genommen hatten,
dann las er einige der Begriffe laut vor: »Mitgefühl. Respekt.
Hilfsbereitschaft.«
    Ein Grinsen huschte über sein Gesicht: »Das ist durchaus mutig,
Sarah, dass Sie diese Begriffe aufgeschrieben haben – wo doch klar ist, dass
Sie mir das alles – nach einem Gespräch wie dem heutigen – rundweg absprechen.«
    Sarah zuckte zusammen, aber Moeller wandte sich wieder der Tafel zu
und schien ganz zufrieden.
    »Was haben wir hier noch? Mut, Entschlossenheit, Fleiß – sehr schön,
alles sehr schön.« Er drehte sich wieder zur Klasse hin. »Das sind alles sehr
lobenswerte Charaktereigenschaften, und zugleich sind das aber auch die Päckchen,
die Sie mit sich durchs Leben schleppen. Dass Sie genau diese Begriffe« – er
machte eine Geste zur Tafel hin – »als wichtig erachten und nicht ganz andere,
ist in Ihrer bisherigen Prägung begründet. So haben Ihre Eltern Sie erzogen,
vielleicht auch die Großeltern, Sie haben das aus dem Umgang mit den
Nachbarskindern gelernt oder bekamen es von Lehrern wie Herrn Zimmermann
nahegelegt.«
    Er musterte die Mienen der Schüler. Sie hatten die Hoffnung auf eine
verspätete Pause offenbar aufgegeben, und sahen ihn aufmerksam an, vermutlich
vor allem aus Angst vor einer möglichen Strafaktion.
    Moeller wandte sich wieder der Tafel zu. Er überflog die anderen
Begriffe, dann nahm er den Schwamm, wischte die ganze Tafel sauber und drehte
sich wieder zur Klasse hin.
    »Und das« – er deutete über die Schulter auf die leere Tafel – »ist
das, was ich für Sie an dieser Schule erreichen will.«
    Fragende Gesichter.
    »Der Begriff Tabula rasa wird Ihnen

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