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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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Schreibtisch hin, zog eine Schublade auf und nahm
einen Briefumschlag heraus. Den hielt er der Frau aus sicherer Entfernung hin.
    »Hier bitte«, sagte er mit krächzender Stimme und räusperte sich.
»Ihr Geld.«
    Sie zögerte kurz, dann griff sie nach dem Umschlag, riss ihn Kray
geradezu aus der Hand. Sie nickte Kray noch kurz zu und ging durch den Raum zum
Ausgang. Als sie gerade die Klinke heruntergedrückt und die Tür aufgezogen
hatte, begann Kray hinter ihr: »Bitte, ich … Frau Pietsch, es …«
    Ohne sich umzudrehen, hob Annette Pietsch die linke Hand in einer
abwehrenden Geste. Kray verstummte sofort. Im nächsten Augenblick ging sie
weiter, versuchte für den schweren Gang aus der Kanzlei hinaus ein unverbindliches
Lächeln aufzulegen. Und es kostete sie ihre ganze Kraft, nicht kopflos
loszurennen.
    Endlich in ihrem Wagen angekommen, fuhr sie mit quietschenden Reifen
davon, rumpelte die engen Kurven der Ausfahrtsrampe hinauf, nahm oben an der
Hauptstraße einem schrill lackierten Kleinwagen die Vorfahrt und bog unter
dessen plärrendem Hupen in Richtung Stadtmitte ein. Allmählich ließ sie das
Zittern in ihren Händen zu, sie fröstelte und spürte im Nacken und an den
Oberschenkeln einen schmerzhaften Krampf aufkommen – und erst im letzten Moment
fiel ihr auf, dass die Ampel vor ihr auf Rot gesprungen war. Sie bremste heftig
ab. Erneutes Hupen hinter ihr.
    Der Pizzabote im Kleinwagen drückte seine Tür auf, sprang auf die
Straße und marschierte schimpfend und gestikulierend zur Fahrertür des Wagens
vor ihm. Dann wurde ihm klar, dass er sich seine Tirade sparen konnte: Die
Fahrerin war über ihrem Lenkrad zusammengesunken, und ein Weinkrampf nach dem
anderen durchschüttelte ihren Oberkörper.
    Sören Karrer war die halbe Nacht kreuz und quer durch die
Stadt gelaufen, und allmählich drückte ihm der alte Rucksack unangenehm auf die
Schultern und den Rücken. Es war nun Zeit, er sollte es zu Ende bringen.
Hendrik würde keine Ruhe mehr lassen. Und Moeller auch nicht. Zum Neckar war es
etwa eine halbe Stunde Fußweg, dort müsste es klappen.
    Als die Fußgängerampel auf Grün sprang, wollte er gerade auf die
Fahrbahn treten, als ein Van ziemlich flott auf den Überweg zufuhr und erst im
letzten Augenblick bremste. Sören wartete noch kurz ab, beobachtete, wie der
Zweisitzer hinter dem Van ebenfalls eine Vollbremsung machte und fast auf das
vordere Auto aufgefahren wäre. Dann sprang der Fahrer wütend heraus, ging zur
Fahrertür des ersten Autos – und hörte abrupt auf zu zetern.
    Sören sah sich kurz nach beiden Seiten um, bis ihm klar wurde, dass
das eigentlich Blödsinn war – angesichts dessen, was er heute noch vorhatte.
Dann ging er mit einem bitteren Grinsen über die Straße, riskierte noch einen
kurzen Blick auf die weinende Frau am Steuer des Wagens und auf den Pizzaboten
mit seinem bunten Käppi, der sich jetzt hilfesuchend umsah und zu einer Gruppe
junger Leute hinüberrief, die auf dem Gehweg standen und Döner kauend zu ihm
hinübersahen.
    Auf dem Weg hinunter zum Fluss kamen ihm seine Eltern in den Sinn:
sein Vater, der die Woche über wieder auf Montage war, seine Mutter, die für
drei Tage zur Oma gefahren war, um einen Kurzurlaub der Pflegekraft zu überbrücken – schließlich war er, Sören, ja alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.
Probleme in der Schule hatte er auch noch nie gehabt. Zumindest keine, von
denen seine Mutter wusste.
    Der auffrischende Wind ließ die Tränen auf seinem Gesicht unangenehm
kalt werden.
    Als Annette Pietsch schließlich nach Hause kam, schliefen
schon alle. Gut so, dachte sie, vor allem ihrem Mann wäre sie heute Abend nicht
mehr gern begegnet – was eigentlich widersinnig war: Schließlich hatte sie
nichts Unrechtes getan, sondern ihr war übel mitgespielt worden. Trotzdem
fühlte sie fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, und tatsächlich hätte sie
sich gerne ausgiebig geduscht, wie das in Filmen die Opfer von Vergewaltigungen
immer taten. Aber das rauschende Wasser hätte ihren Mann auf jeden Fall geweckt
und vermutlich auch misstrauisch gemacht – zumal sie heute wirklich viel später
als sonst dran war. Den Wagen konnte sie auch morgen früh ausladen. Also
schenkte sie sich ein Glas italienischen Rotwein ein, schloss die Küchentür
hinter sich und setzte sich ins Halbdunkel der heruntergedimmten Lampe.
    Nach einer Weile fiel ihr der Umschlag mit dem Geld wieder ein. Sie
ging in den Flur, holte ihre Umhängetasche in die Küche

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