Kinder
durch, okay?«
Sören sah seinen Freund resigniert an.
»Okay?«, fragte der noch einmal, schließlich nickte Sören und wandte
sich zum Gehen.
»Und ich soll wirklich nicht mit hoch? Mit deiner Mutter reden oder
so?«
»Nein, lass mal. Die weiß ja, dass ich gestern krank war.«
Hendrik sah Sören noch nach, wie er die Haustür aufschloss und
hineinging. Dann drehte er sich um und ging gemächlich den ganzen Weg zur
Schule zurück. Mit etwas Glück würde er erst während der letzten Unterrichtsstunde
wieder im Klassenzimmer sein, und eine Entschuldigung für seine Abwesenheit
hatte er ja.
Sören stand eine Weile im Hausflur und lehnte die Stirn an die kalte
Mauer. Hendrik würde keine Ruhe geben, bis sie beide endlich mit dem
Vertrauenslehrer gesprochen hätten – dafür kannte er seinen Klassenkameraden
gut genug. Aber er hatte wenig Hoffnung, die Konfrontation mit dem autoritären
Lehrer durchzustehen.
Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Augen und die Kehle
brannten, und schließlich ging er in den Keller hinunter. Die Lagerräume der
einzelnen Wohnungen waren nur durch Holzgitter voneinander abgetrennt, und
einer der Nachbarn hatte in der Nähe der kleinen Tür und damit vom Gang aus
durch die Holzstäbe hindurch in Reichweite alles, was er heute Nacht brauchen
würde.
Annette Pietsch hatte gleich kein gutes Gefühl dabei, aber
nun hatte sie schon so lange gewartet, also kam es auf die paar Minuten auch
nicht mehr an.
Der Abend war gut gelaufen, das Catering war von allen gelobt
worden, und auch der Auftraggeber, ein Rechtsanwalt namens Jonas Kray, war
offensichtlich sehr zufrieden mit dem Essen.
»Bleiben Sie bitte noch einen Moment?«, sagte Kray. »Ich gebe Ihnen
das Geld gleich in bar.«
Damit war er wieder zur Ausgangstür verschwunden, um einige Gäste zu
verabschieden.
Schicke Anzüge, teure Abendkleider und Gespräche über
Golfwochenenden und Urlaubsdomizile in Apulien: Krays Publikum war eine Klasse
für sich und immer wieder hatte sich Annette Pietsch beherrschen müssen, hinter
ihren Töpfen und Schüsseln nicht zu grinsen, wenn sich Krays Gäste für einen
Nachschlag anstellten und dabei über Yachtmotoren oder Kaviarsorten
fachsimpelten.
Schließlich war das Buffet abgeräumt, die Schüsseln verstaut und die
Reste verpackt. Annette Pietsch sah sich im Besprechungsraum von Krays Kanzlei
um, ob sie noch irgendetwas vergessen hatte.
Kray steckte den Kopf zur Tür herein. »Kommen Sie?«, fragte er
freundlich und war schon wieder verschwunden.
Sie ging hinaus auf den Flur und sah, wie er sich an der nächsten
Ecke noch einmal zu ihr umdrehte und ihr zu verstehen gab, dass sie ihm folgen
solle. Sie ging hinter Kray her den kurzen Flur entlang, an dessen Ende er ihr
die Tür aufhielt und sie galant in ein Zimmer wies.
Es war ein geräumiges Büro, das auf der einen Seite von einer großen
Polstergruppe und auf der anderen von einem riesigen Schreibtisch mit
angebauter Besprechungsecke dominiert wurde. Eine ganze Wandfläche war aus
Glas, dahinter standen teuer aussehende Gartenmöbel auf einem Balkon und der
Blick legte ihr die halbe Stadt zu Füßen.
Sie musterte gerade die Lichter und versuchte, einige besonders
markante Objekte zuzuordnen, als sie Krays Hände auf ihren Hüften spürte. Sie
erstarrte.
Die Hände streiften über ihr dünnes Kleid langsam nach vorn auf
ihren flachen Bauch. Im Nacken spürte sie Krays heißen Atem und roch seine
Weinfahne. Am Hintern spürte sie etwas anderes. Sie wollte schreien, sich losreißen – egal was, aber sie war völlig starr, verkrampft und absolut unfähig, auch nur
einen Finger zu bewegen.
Kray drückte sich noch etwas fester an sie, ließ seine Hände nach
unten wandern. Er stupste sie mit der Nase in den Nacken und flüsterte ihr
heiser ins Ohr: »Wusst ich doch, dass dir das gefallen wird …«
Es war, als hätten die Worte des Anwalts ihre Blockade auf einen
Schlag gelöst: Annette Pietsch trat einen Schritt nach vorn, drehte sich um und
klatschte dem völlig verdutzten Mann ihre rechte Hand auf die Wange.
Kray, völlig überrumpelt und wegen des Weins nicht mehr ganz
standfest, taumelte zur Seite, dann starrte er Annette Pietsch mit offenem Mund
an. Sie stand mitten im Raum, die Hände zu Fäusten geballt und den Blick wütend
auf ihn gerichtet.
Einige Sekunden lang standen sich die beiden gegenüber, starrten
sich an und atmeten schwer. Dann schüttelte sich Jonas Kray, ging ein paar
unsichere Schritte zu seinem
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