Kinder
waren weniger verrostet. Und die dunklen Flecken in der Vertiefung hoben
sich noch deutlicher als sonst vom etwas weniger schmutzigen Boden ab.
Der alte Mann räusperte sich nach einer Weile,
wendete seinen Rollstuhl und fuhr das letzte Stück des Gangs entlang, bevor er
schließlich nach links drehte und durch die letzte Tür rollte. Hier war ein
enges Büro eingerichtet. Ein altmodischer Schreibtisch stand in der Mitte,
dahinter ein kleiner Bürostuhl aus hellem Holz. Die hintere Wand war von grauen
Stahlschränken beherrscht, wie sie sich auch gegenüber an der Wand aufreihten.
Der Vorsitzende kurvte um den Schreibtisch, schob den Holzstuhl beiseite und
postierte sich hinter dem Schreibtisch, als wolle er gleich mit Büroarbeit
beginnen. Dann wischte er etwas Staub von der Schreibtischunterlage, legte
seine dünnen Unterarme darauf und sah sich um.
Der Wandkalender war veraltet, die Neonröhre an
der Decke flackerte unruhig, und am Rand der Tischplatte waren altertümliche
Büroutensilien aufgereiht. Wehmütig nahm der alte Mann ein Stempelkissen in die
Hand und klappte es auf. Ein vertrauter Geruch von Tinte und etwas Staub stiegen
ihm in die Nase. Er schüttelte ein Fläschchen Korrekturfarbe, mit der man
Tippfehler übermalen konnte – ein leises Schwappen
verriet ihm, dass das Fläschchen noch nicht ganz leer war.
Es waren gute Zeiten gewesen, und sie hatten
brauchbare Erfolge erzielt hier unten. Doch nach und nach war es immer
schwieriger geworden, neues » Material « zu bekommen, wie sie das damals genannt hatten. In den ersten
Jahren, ja Jahrzehnten, hatte es genug Vermisste und genügend Lücken in den
Einwohnerstatistiken gegeben, doch später wurden sie nur noch aus der
Psychiatrie mit Nachschub versorgt – entsprechend
dürftig waren dadurch leider auch die Ergebnisse ihrer Studien geworden. Und
sogar dort wurde das Material schließlich knapp, und sie hatten ihre Arbeit
hier unten aufgeben müssen.
Ein Jammer , dachte der
Vorsitzende und sah sich noch einmal um in dem kleinen Büro. Dann riss er sich
von seinen Gedanken los und zog eine der Schreibtischschubladen auf. Er hatte
hier noch zu tun.
Kapitel fünf
Der zweite Elternabend der Klasse 6d verlief zunächst
recht harmonisch. Karin Knaup-Clement führte zügig durchs Programm, die meisten
Punkte waren schnell abgehakt, und als Rosemarie Moeller schließlich damit
begann, die bisherigen Lernerfolge und die restlichen Ziele für dieses
Schuljahr zu benennen, hörten fast alle gespannt und aufmerksam zu.
Rainer Pietsch sah sich unauffällig um. Rosemarie Moeller hatte an
diesem Abend allem Anschein nach nichts von den Eltern der 6d zu befürchten.
»Hat jemand noch eine Frage dazu?«
Rosemarie Moeller ließ ihren Blick durch die Reihen gleiten, blieb
kurz an Rainer Pietsch hängen, als erwarte sie von ihm eine Wortmeldung – aber
auch er hatte keine Fragen zum Schulstoff der sechsten Klasse. Er musterte die
Lehrerin: Sie schien ganz entspannt, soweit das ihre dominante und stets extrem
kontrollierte Art überhaupt zuließ, und mit einem kleinen Nicken gab sie Karin
Knaup-Clement zu verstehen, dass sie fertig war.
»Gut, dann wären wir für heute Abend durch. Hat denn jemand noch
etwas anderes auf dem Herzen?«
Ein paar Hände gingen hoch, es wurden Fragen zum Schullandheim
gestellt, das zu Beginn der siebten Klasse auf dem Programm stand; es wurde
angeregt, in den Getränkeautomaten künftig auch Eistee anzubieten; es ging um
einige beschädigte Räder im Fahrradkeller der Schule. Schließlich hob auch
Rainer Pietsch die Hand.
»Ja, bitte, Herr Pietsch?«
»Ich wollte vorschlagen, dass von Seiten der Schule einmal Kontakt
mit Frau Werkmann aufgenommen wird. Ich nehme an, die wenigsten von Ihnen haben
sie seit der Beerdigung gesehen.«
»Nun ja …« Karin Knaup-Clement räusperte sich und wirkte etwas
pikiert. Rosemarie Moeller sah zu Rainer Pietsch hin und musterte ihn mit einem
undefinierbaren Gesichtsausdruck. »Ich will’s mal so ausdrücken«, fuhr die
Elternsprecherin nach einer kurzen Pause ziemlich gespreizt fort: »Frau
Werkmann hat uns allen ja recht deutlich zu verstehen gegeben, wieviel ihr
daran liegt, mit der Schule oder den anderen Eltern Kontakt zu haben.« Sie sah
einige Eltern zustimmend nicken und wandte sich mit einem entsprechend
zufriedenen Blick wieder an Rainer Pietsch. »Meinen Sie nicht auch?«
»Immerhin ist ihr Sohn auf tragische Weise ums Leben gekommen, da
sollten wir sie nicht einfach so mit sich
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