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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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Sie haben ihn gewissermaßen da hinuntergestoßen – und deshalb will
ich nicht, dass Sie seinem Leichnam nun auch noch Erde hinterherwerfen!«
    Immer mehr Trauergäste sahen nun mitfühlend zu Karin Knaup-Clement
hinüber, immer mehr schüttelten den Kopf angesichts dieses Auftritts. Auch der
Mann in Jeans und dunkler Jacke, der Christine Werkmann hinter dem Sarg gefolgt
war, schüttelte traurig den Kopf und wandte sich zum Gehen.
    »Sehen Sie?«, rief Christine Werkmann, und ihre Stimme klang beinahe
hysterisch. »Jetzt wendet sich auch Kevins Vater von ihm ab!«
    Kurz hielt der Mann mit dem Rücken zum Grab mitten im Schritt inne,
dann straffte er die Schultern und ging weiter, immer weiter, bis er den
Friedhof verlassen hatte.
    »Da geht er, so wie er schon einmal gegangen ist!«, schrie Christine
Werkmann ihm hinterher, dann drehte sie sich zu Rektor Wehling um: »Warum haben
Sie nichts unternommen, warum haben Sie diese Wahnsinnige und ihren Mann nicht
gestoppt, bevor es für meinen Jungen zu spät war?«
    Wehling wich dem Blick der Frau aus, sah zu Hässler hin und dann zur
Schulpsychologin. Die zuckte nur mit den Schultern.
    »Aber Sie«, schrie Christine Werkmann zu Rosemarie Moeller hinüber,
»vor allem Sie … Sie sind der Teufel!« Der Pfarrer ging entrüstet einen
Schritt auf Christine Werkmann zu, aber Annette Pietsch hielt ihn mit einer warnenden
Geste zurück. »Sie sind der Teufel, und alle sind Ihnen auf den Leim gegangen!
Alle, außer meinem Jungen und mir – und er liegt nun dort drunten, und mich
wollen Sie auch noch so weit bringen, das weiß ich!« Christine Werkmann
schnappte nach Luft, fasste sich an die Brust, dann sackte sie in sich zusammen
und blieb mitten auf dem Kiesweg hocken.
    Kopfschüttelnd strebten die Trauergäste dem Ausgang zu, Karin
Knaup-Clement machte einen kleinen Umweg, um nicht direkt an der
zusammengebrochenen Frau vorbeigehen zu müssen, und auch die Lehrer beeilten
sich, ihre Klassen vom Friedhof zu scheuchen. Als letzte Klasse machte sich die
6d auf den Weg und Rosemarie Moeller, die den Kindern ein Zeichen gab, den
Friedhof möglichst leise zu verlassen, gönnte sich vor dem Hinausgehen einen
letzten Blick auf die am Boden kauernde und immer wieder von heftigem
Schluchzen geschüttelte Mutter. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr hageres
Gesicht, dann folgte sie ihren Schülern nach draußen.

Das metallische Schleifen in dem
ruckelnd und rüttelnd nach unten gleitenden Aufzug klang bedrohlich und laut.
Am unteren Ende des Schachts angekommen, stoppte die Fahrt abrupt, und der
Stahlkäfig wippte noch ein paar Mal nach.
    Schließlich hob sich die faltige linke Hand von
der Lehne des Rollstuhls und zog einmal kräftig an dem rostigen Griff. Die Tür
wurde mit einem scheppernden Klacken entriegelt. Der alte Mann steuerte seinen
Rollstuhl nach vorn, boxte zwei-, dreimal mit den Fußauflagen gegen die Tür,
bis sie sich endlich mit einem hässlichen Kreischen in den Angeln bewegte und
langsam aufschwang.
    Es öffnete sich der Blick in einen langen Gang, dessen
kahle Wände von trüben Deckenlampen nur unzureichend beleuchtet wurden. In
gleichmäßigem Abstand und immer neben einer der Deckenlampen gingen zur rechten
Seite hin Türen von dem Gang ab, nach links führte erst weit hinten eine
einzelne Tür. Langsam rollte der Rollstuhl den Gang entlang, holperte ab und zu
über kleine Putzbrocken, die aus der Decke oder einer Wand gebrochen waren. An
jeder Tür hielt der alte Mann kurz an, wendete den Rollstuhl und sah in den
jeweiligen Raum hinein, so weit es der Schein der Deckenlampe zuließ.
    Es waren Zellen wie in einem alten Kloster oder
einem aufgegebenen Gefängnis. Ein Brett, hinten an der Rückwand auf Steine
gelegt, sollte wohl eine Art Bett darstellen. In einer Ecke war eine Vertiefung
im Boden zu sehen, die noch schmutziger wirkte als der Rest des Raums und deren
Abfluss sich im Schatten verlor. Neben diesem Loch und an der Wand gegenüber
waren abgewetzte Haken und Ringe aus rostigem Metall in den Mauern befestigt, davor
wies der Boden kleine, ebene Vertiefungen auf.
    Alle Zellen, die der alte Mann besichtigte, sahen
so aus. In der einen war das Brett zerbrochen, in der anderen lag ein
zersprungener Metallring auf dem Boden – sonst war
alles identisch.
    Vor dem letzten Raum blieb der alte Mann
besonders lange stehen. Hier war alles noch relativ gut erhalten: Das Brett auf
den Steinen wirkte neuer als in den anderen Zellen, auch die Metallhaken und
-ringe

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