Kinder
Woher kennst du Michael?«
»Meine Sache. Und was habt ihr für Probleme mit ihm?«
»Unsere Sache.«
Rico musste grinsen.
»Du gefällst mir, Kleiner.«
Er zog zwei Kaugummis aus der Tasche und hielt sie ihnen hin. Noch
misstrauischer schaute Marc auf Ricos Hand.
»He, kannste ruhig nehmen«, lachte Rico. »Da ist nix Verbotenes
drin. Jedenfalls war Pfefferminz gestern noch erlaubt.«
Zögernd griffen Tobias und Marc zu, packten die Streifen aus und
schoben sie sich in den Mund.
»Wie heißt du eigentlich?«, schmatzte Tobias.
»Rico. Und ihr?«
Die beiden stellten sich ihm vor.
»Und: welche Probleme habt ihr nun mit diesem Michael?«
Auf dem Heimweg sprachen Annette und Rainer Pietsch nicht
viel. Sie hatten Christine Werkmann besucht, hatten miteinander gegessen und
getrunken, und am Ende war Kevins Mutter ziemlich betrunken am Tisch
eingeschlafen. Sie hatten sie nach einer Weile geweckt und machten Anstalten,
ihr ins Bett zu helfen – aber Christine Werkmann hatte empört jede Hilfe
abgelehnt und ihre beiden Besucher mehr oder weniger höflich hinausgebeten.
»Mir geht das jedes Mal an die Nieren«, sagte Rainer Pietsch
schließlich, als sie noch bei einem Glas Rotwein auf dem Balkon saßen,
eingemummelt in dicke Jacken und mit dem Blick auf die zwei Blocks entfernt
vorbeiführende Hauptstraße.
»Na ja, sie ist ja nicht jedes Mal betrunken.«
»Das meine ich auch nicht. Mir tut das fast schon körperlich weh,
wenn ich sehe, wie sie leidet.«
»Ja, das macht mir auch zu schaffen. Aber solange sie die Moellers
für mitschuldig an Kevins Tod hält, solange sie sich an diese …
Verschwörungstheorie klammert, wird es ihr auf keinen Fall besser gehen.«
»Irgendwie kommt mir das immer weniger verrückt vor.«
»Dass die Moellers schuldig oder mitschuldig an Kevins Tod sind?
Also ich bitte dich: Überfahren hat ihn ja wohl ein anderer – der Vater eines
Jungen aus der Elften. Und er hat seinen Sohn nur zur Schule gefahren, weil der
sich die Kreuzbänder gerissen hatte. Hab ich jedenfalls gehört.«
»Nein, nicht so direkt, aber …«
»Ach, Rainer, es bringt doch nichts, wenn du dich da jetzt auch noch
verrennst!«
»Denk doch nur mal an Lukas«, sagte Rainer Pietsch nach einer Weile.
»Der war mit Kevin befreundet, und die beiden wurden von diesen vier
Möchtegern-Rambos verprügelt. Deren Eltern wollen nichts von der Sache hören
und natürlich betonen sie alle, dass ihre Engelchen so etwas nie machen würden …«
»Überrascht dich das?«
»Nein. Ich kann ja selbst kaum glauben, dass Michael sich mit seinen
beiden Klassenkameraden angelegt haben soll.«
»Ich auch nicht.«
»Und trotzdem hat uns vor ein paar Tagen Frau Rominger angerufen und
sich beschwert, dass Michael angeblich ihren Sohn Tobias getreten habe …«
»Aber Michael … Ich weiß nicht.«
»Er redet nicht mit uns, streitet die Vorwürfe nicht ab, und in
letzter Zeit kommt er mir schon ziemlich auf Krawall gebürstet vor.«
»Aber trotzdem …«
»Siehst du? So geht es den Eltern von Marius und den drei anderen
vermutlich auch: Sie sind natürlich auf der Seite ihrer Jungs, und entweder sie
halten es wirklich nicht für möglich, dass ihre Söhne so einen Mist bauen –
oder sie streiten alles ab, um sich drohenden Ärger vom Hals zu halten.«
»Klappt ja meistens.«
»Ja, leider. Aber worauf ich hinauswill: Stell dir doch nur mal vor,
welchen Druck die Moellers in ihrem Unterricht aufbauen. Was, wenn nun einzelne
Kinder den ganzen Druck auf diese Art ablassen? Das würde vielleicht auch
Michaels aggressives Verhalten erklären. Nehmen wir mal an, die vier Jungs
hatten Lukas und Kevin wirklich auf dem Kieker, und nun ist Kevin tot – da
komme ich schon ins Grübeln.«
»Du glaubst doch nicht etwa …?«
Annette Pietsch starrte ihn an, und er wusste nicht recht, ob sie
entsetzt von der möglichen Schlussfolgerung war – oder ob sie ihn im Moment
schlicht für durchgeknallt hielt.
»Wir sollten die Moellers im Auge behalten«, sagte er vorsichtig.
Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm und sagte: »Das können wir gerne
machen, Rainer, aber verrenn dich da bloß in nichts!« Sie sah ihn lange
eindringlich an. »Bitte!«, fügte sie dann hinzu und küsste ihn.
Lukas hatte seine Eltern bis spät in die Nacht miteinander
reden hören. Nach einer Weile schlich er sich ins Wohnzimmer und duckte sich
dort in den Schatten neben der Balkontür. Offenbar ging es um Kevin und ihn, um
Marius und dessen Freunde und
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