Kinder
bewegte sich der Mann in Jeans und dunkler Jacke auf das
Grab zu. Er ging langsam, stockend, schien zu zögern und sah, als er endlich am
Grabrand stand, fragend zu Christine Werkmann hin. Sie schüttelte nur kurz den
Kopf und stierte dann wieder auf den Boden vor sich. Der Mann blieb kurz am
Grab stehen, warf aber keine Erde hinunter und ging mit hängenden Schultern
wieder zurück zu seinem Platz.
Nun kamen auch die anderen Trauergäste in einer langen Reihe ans
Grab, streuten Erde und gingen zu ihren Plätzen zurück. Christine Werkmann
musterte von Zeit zu Zeit die Herankommenden, senkte dann aber wieder den
Blick. Nur vereinzelt gingen Besucher zu Kevins Mutter – trotz der
ausdrücklichen Bitte in der Todesanzeige, von Beileidsbezeugungen am Grab
abzusehen. Doch sie alle mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil
Christine Werkmann keinem von ihnen die Hand gab, auch niemanden ansah, wenn
sie angesprochen wurde.
Die Schulklassen blieben an ihrem Platz stehen, nur vereinzelt kamen
Schüler ans Grab und streuten etwas Erde hinunter. Rosemarie Moeller machte
schon Anstalten, ebenfalls nach vorne zu kommen, da traf sie der hasserfüllte
Blick von Christine Werkmann, und sie blieb stehen, wo sie war. Schließlich
kamen die offiziellen Vertreter der Schule an die Reihe: Rektor Wehling,
Vertrauenslehrer Hässler, eine Schulpsychologin, ein Beamter des Schulamts und
als Letzte in der Reihe Karin Knaup-Clement als Elternvertreterin.
Christine Werkmann sah sie an mit einer Mischung aus Trauer und Wut.
Verletzt wirkte sie, und fast schien es, als würden ihr nun die Kräfte
ausgehen. Rainer Pietsch, der gesehen hatte, wie sie etwas schwankte, machte
seine Frau darauf aufmerksam – und Annette Pietsch schlüpfte schnell und
unauffällig an ihre freie Seite und hakte sie unter. Kevins Mutter sah überrascht
zu ihr hin, nickte dankbar, wandte sich dann aber wieder dem Grab zu.
Dann trat die Elternvertreterin ans Grab, sah kaum eine Sekunde lang
auf den mit Erde bedeckten Kindersarg hinunter und griff in die Kiste mit der
Erde. Plötzlich kam Bewegung in Christine Werkmann. Annette Pietsch und die
ältere Frau auf ihrer anderen Seite konnten gar nicht so schnell nach dem Arm
der Mutter greifen, da war sie schon neben Karin Knaup-Clement, schlug ihr die
Erde aus der Hand und schickte sie mit ausgestrecktem Arm vom Grab weg. Die
Elternvertreterin war völlig überrumpelt, sah sich ratlos und hilfesuchend um,
doch keiner machte Anstalten, ihr beizustehen. Alle starrten nur verblüfft auf
die trauernde Mutter, die stocksteif am Rand des Grabes stand und den nun
bereits leicht zitternden Arm ausgestreckt hielt.
Annette Pietsch stellte sich neben Christine Werkmann und machte
Anstalten, sie zu stützen – sie hatte sich so nah am Rand der Grube postiert,
dass unter ihrem rechten Schuh schon einzelne Erdklumpen hinab ins Grab rutschten.
Karin Knaup-Clement stand noch immer direkt vor Christine Werkmann und wusste
offensichtlich nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dann trat sie, ganz
langsam, den Rückzug an, ging einige Schritte vom Grab weg, drehte sich um und
ging kerzengerade zurück zu ihrem Platz, wo sie mit mahlenden Kiefern stehen
blieb und mit flackerndem Blick einen Punkt weit oberhalb der anderen
Anwesenden fixierte.
Christine Werkmann hatte ihr die ganze Zeit über nachgesehen, nun
ging sie selbst ein paar Schritte auf die andere Frau zu und blieb mitten auf
dem Weg stehen. Alles sah gebannt zu ihr hin.
»Hauen Sie endlich ab!« Kevins Mutter schrie den kurzen Satz so laut
und so ansatzlos heraus, dass alle Anwesenden zusammenzuckten. »Weiden Sie sich
hier noch an meiner Trauer?«
Karin Knaup-Clement schluckte, vermied es aber, Christine Werkmann
anzusehen.
»Hauen Sie endlich ab, Frau Knaup-Clement!«
Nun musste sie doch zu Christine Werkmann hinsehen, und die Blicke
der anderen Trauergäste gingen zwischen den beiden Frauen hin und her, manche
verbargen ihre Hoffnung, Zeugen einer sensationellen Entwicklung zu werden,
mehr schlecht als recht.
»Sie tragen Mitschuld am Tod meines Sohnes! Sie wollten nichts
unternehmen, als die dort« – sie deutete auf Rosemarie Moeller, die stumm und
unbewegt hinter ihren Schülern stand – »Kevin zum Abschuss freigegeben hat!«
Betretenes Schweigen ringsum. Karin Knaup-Clement sah sich um, fing
einige Blicke auf, die verrieten, dass sich die Stimmung zu ihren Gunsten
wandelte.
»Sie müssen den Tod dieses unschuldigen Jungen mit Ihrem Gewissen
vereinbaren.
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