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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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alleine lassen. Und wir sollten ihr
auch nicht länger diese … Szene auf dem Friedhof nachtragen.«
    »Szene? Das war wohl etwas mehr als eine Szene, würde ich sagen.«
    »Mir ist schon klar, dass sie Ihnen wehgetan hat, und ich will
diesen ganzen Auftritt auch nicht schönreden – aber hat denn niemand auch nur
ein bisschen Verständnis dafür, dass diese Frau durch den Tod ihres einzigen
Kindes in dieser Ausnahmesituation am offenen Grab völlig neben sich stand?
Dass man da schon mal die Nerven und jedes Maß verlieren kann?«
    Niemand sagte etwas, Rosemarie Moeller blickte Rainer Pietsch stumm
an, die Elternsprecherin hüstelte und malte mit dem Kugelschreiber kleine
Kreise auf ihren Notizblock.
    »Ich meine, die Frau ist traumatisiert und meiner Ansicht nach
hochgradig gefährdet, sich etwas anzutun. Kümmert das denn keinen hier?«
    Er war lauter geworden, und die meisten anderen hatten sich
inzwischen zu ihm umgedreht.
    »Traumatisiert, sagen Sie?«, meldete sich schließlich Ursel Weber zu
Wort. »Da ist sie nicht die Einzige, das kann ich Ihnen sagen! Mein Sohn
Benjamin zum Beispiel schläft seit Kevins Tod kaum mehr eine Nacht durch. Eine
Zeit lang hat er nachts sogar wieder in die Hose gemacht – mein Mann und ich
wussten uns kaum mehr zu helfen.«
    »Und mein Claas hat sich wegen des Unfalls sogar mit seinen Freunden
zerstritten«, warf Lotte Harms ein. »Er war immer ganz dick mit Benjamin,
Marius und Heiko, aber seit Kevins Unfall … Der geht denen richtig aus dem
Weg.«
    »Der Grund dafür ist ganz offensichtlich, dass unsere Jungs von dem
Unfall direkt vor der Schule ebenso geschockt sind wie Frau Werkmann«, rief
Hanna Probst dazwischen. Rosemarie Moeller streifte sie kurz mit einem
tadelnden Blick, Hanna Probst hob halb den Arm, Rosemarie Moeller nickte ihr
kurz zu. »Mein Heiko hat gesagt, es sei eigentlich nichts zwischen den dreien
vorgefallen – und dann hat er gleich wieder losgeheult. Nicht nur Ihre Frau
Werkmann ist traumatisiert, auch unsere Kinder haben unter diesem Ereignis zu
leiden.«
    »Aber das können Sie doch nicht vergleichen: Ein Junge macht ein
paar Mal ins Bett, und eine Mutter wird fast wahnsinnig vor Trauer um ihren
Sohn.«
    »Es ist mir schon klar, dass Sie die Probleme unserer Kinder nicht
ernst nehmen«, sagte Lotte Harms. »Und mir ist auch klar, dass Sie im Grunde
genommen auf ebenso … irrationale Art Vorbehalte gegen Frau Moeller und ihren
Mann haben wie Frau Werkmann. Das ist uns allen hier klar, glaube ich.« Sie sah
sich um, erntete Zustimmung.
    Rainer Pietsch konnte kaum glauben, was er da sah und hörte. »Ich
habe kein Wort gegen Frau Moeller gesagt. Ich habe nur vorgeschlagen, dass die
Schule gegenüber Frau Werkmann eine … eine Geste macht, ihr gewissermaßen
durch die Trauerzeit hilft. Nichts Großes, irgendetwas, das ihr zeigt, dass sie
nicht vergessen ist.«
    Rosemarie Moeller sah Rainer Pietsch an, und fast schien es ihm, als
spiele ein spöttisches Lächeln um ihre Mundwinkel. Doch als sie sich nach einer
kurzen Pause an ihn wandte, klang ihre Stimme freundlich und überraschend
versöhnlich: »Haben Sie denn noch Kontakt zu Frau Werkmann, Herr Pietsch?«
    »Natürlich. Meine Frau und ich rufen sie regelmäßig an, wir haben
sie auch schon besucht, sind mit ihr zu Kevins Grab gefahren, und vergangene
Woche war sie mal einen Abend lang bei uns zu Besuch.«
    »Gut«, nickte Rosemarie Moeller. »Dann ist sie ja nicht ganz allein.
Behalten Sie das doch am besten bei, Herr Pietsch, das wird sicher hilfreich
sein.«
    Rainer Pietsch musterte die Lehrerin. Sie klang aufrichtig,
teilnahmsvoll, fast besorgt – aber ihre Miene passte nicht zu den Worten und
dem Tonfall, in dem sie sie aussprach. Noch auf dem Heimweg grübelte Rainer
Pietsch, was der Gesichtsausdruck von Rosemarie Moeller in diesem Moment wohl
bedeutet haben mochte.
    Sören begann wieder nachts durch die Stadt zu streifen.
Manchmal lungerte er dann vor einem Club herum, bis der Türsteher misstrauisch
wurde und über die Straße kam, um ihn wegzuscheuchen. Manchmal tigerte er durch
ruhige Wohngebiete, und ein Spätheimkehrer sah ihm aufmerksam nach, ob er nicht
irgendwo in einem Hauseingang verschwand und sich am Türschloss zu schaffen
machte.
    Manchmal stand er einfach am Neckarufer, hörte ab und zu ein Auto
über sich auf der Brücke vorüberfahren. Dann sah er eine halbe oder auch eine
ganze Stunde nur hinaus aufs Wasser, sah kleinen Wellen hinterher, in denen
sich das Licht der

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