Kinderfrei
Befruchtung gegenüber anderen medizinischen Leistungen sogar deutlich privilegiert. Denn normalerweise dürfen die gesetzlichen Krankenkassen Leistungen nur erbringen, wenn sie wirtschaftlich und wirksam sind, wie es im § 2 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 SGB V heißt. Es wäre äußerst fraglich, ob die Verfahren der künstlichen Befruchtung, die einerseits mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden sind, andererseits aber nur in 18 von 100 Fällen zur Geburt eines Kindes führen 42
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, als wirtschaftlich im Sinne von § 2 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 SGB V anzusehen wären.
Durch die Sonderregelung des § 27a SGB V stellt sich diese Frage jedoch gar nicht erst, da das Wirtschaftlichkeitsgebot keine Anwendung findet. Sie ermöglicht darüber hinaus die Behandlung auch in Fällen, in denen die Kinderlosigkeit eines Paares medizinisch nicht erklärt und deshalb auch kein »kranker« Versicherter gefunden werden kann. Ebenso werden Abgrenzungsprobleme vermieden, die entstünden, wenn man die allgemeinen Vorschriften über die Behandlung von Krankheiten auf die künstliche Befruchtung anwenden würde – etwa in den Fällen, in denen die Behandlung gerade dem Partner zuteil wird, der keine Fertilitätsstörung aufweist. 43
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Nicht zuletzt kommen so auch Paare in den Genuss einer Kostenerstattung, bei denen es mehr als fraglich ist, ob die Unfruchtbarkeit überhaupt eine Krankheit, also einen »regelwidrigen Zustand« darstellt, namentlich ältere Paare, bei denen der Rückgang der Fruchtbarkeit völlig normal und obendrein evolutionär sinnvoll ist. Bei Frauen etwa nimmt ab dem 30. Lebensjahr die Fruchtbarkeit drastisch ab: Liegt im Alter von 30 Jahren die Chance einer Schwangerschaft noch bei 63%, so sinkt sie zwischen 30 und 35 Jahren auf 52% ab und liegt im Alter von 40 Jahren nur noch bei 36%. Umgekehrt steigt das Risiko der Unfruchtbarkeit von 8% im Alter von 30 Jahren auf 15% (35 Jahre) und schließlich auf 32% (40 Jahre). 44
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Von »regelwidrig« kann also keine Rede sein.
Nun erklärt zwar die Ausgestaltung des § 27a SGB V als eigenständiger Versicherungsfall, warum der Gesetzgeber bei der Regelung der künstlichen Befruchtung von den für die Behandlung von Krankheiten geltenden Regeln abweichen durfte. Noch nicht geklärt ist damit jedoch die Frage, warum ausgerechnet Ehepaare anspruchsberechtigt sind, und vor allem, warum die gesetzliche Krankenversicherung überhaupt die Kosten für eine medizinisch nicht notwendige Maßnahme übernimmt, und sei es auch nur zur Hälfte.
Dass der Gesetzgeber wegen des in Art. 6 GG festgelegten besonderen staatlichen Schutzes der Ehe Letztere gegenüber anderen Lebensformen privilegieren darf, wurde bereits erörtert. Im konkreten Fall der Übernahme der Kosten für eine künstliche Befruchtung nur für verheiratete Paare hat nun das Bundesverfassungsgericht diese Privilegierung nochmals ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt und mit der Stabilitätsgewähr der Ehe als auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft begründet. 45
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Auch das Bundesgesundheitsministerium, der Bundesverband der Betriebskrankenkassen und die Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht haben in ihren Stellungnahmen, die sie zu der dem Urteil zugrundeliegenden Vorlage an das Bundesverfassungsgericht abgegeben haben, in diesem Sinne argumentiert – ungeachtet dessen, dass diese Vorstellung mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben. Die Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht erkennt diese Tatsache in seiner Erklärung immerhin an, wischt sie jedoch kurzerhand vom Tisch und behauptet einfach, für das Kindeswohl repräsentiere die Ehe trotz des zwischenzeitlichen gesellschaftlichen Wandels die stabilste und gesellschaftlich in erster Linie anerkannte Form der Familiengründung. 46
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Eleganter kann man den Gedanken »Was interessiert mich die Realität« nicht formulieren.
Besonders problematisch wird es aber, wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung auf die außerordentlichen Belastungen abstellt, denen das Verfahren der künstlichen Befruchtung eine Paarbeziehung aussetzt. Diese ergeben sich vor allem daraus, »dass oft mehrere, beide Partner physisch und psychisch fordernde Versuche notwendig sind, diese Versuche zudem nicht selten erfolglos bleiben, und die künstliche Befruchtung nur in 18 von 100 Behandlungen zur Geburt eines Kindes führt«. Der Gesetzgeber dürfe
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