Kinderfrei
Entwicklung fraglos verschärft. Jedoch kommt es auch hier wieder ganz auf den Blickwinkel an. Man kann den Untergang Deutschlands beschwören, oder man kann die positiven Aspekte und Chancen erkennen. Das Phänomen der qualifizierten Arbeitslosigkeit dürfte sich zum größten Teil erledigen, wenn das Angebot an Akademikern und anderen gut ausgebildeten Kräften die Nachfrage nicht mehr übersteigt. Und Unternehmen könnten es sich auch nicht mehr so ohne Weiteres leisten, Menschen unterhalb ihrer Qualifikation zu beschäftigen, was ein sicheres Rezept für das Verkümmern und den Verlust von Kompetenzen ist. Gleichzeitig lassen sich Verbesserungen im Bildungsbereich wie bessere personelle und sonstige Ausstattung, kleinere Klassenstärken, Nachmittagsbetreuung etc. bei niedrigen Geburtenzahlen sehr viel leichter verwirklichen, da bei einer kleineren Anzahl von Kindern und Jugendlichen mehr Geld pro Kopf ausgegeben werden kann, ohne dass der finanzielle Gesamtaufwand steigen muss.
Allerdings scheint in Deutschland trotz aller anderslautenden Sonntagsreden ein merkwürdiger Widerwille dagegen zu bestehen, allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft die bestmögliche Bildung zu ermöglichen. Die deutsche Bildungspolitik richtet sich offenbar schon seit Jahren nach der Erkenntnis, die der Hobby-Genforscher Thilo Sarrazin im Jahr 2010 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, nämlich dass Intelligenz zu 80% vererbt wird. Da kann man mit Bildung und Förderung einfach nichts ausrichten. Deshalb sollen gefälligst deutsche Akademikerinnen und nicht ungebildete Einwanderer die Kinder bekommen. Mit anderen Worten: Wir wollen Akademiker nicht ausbilden, wir versuchen, sie zu züchten.
Dummerweise kommt die Realität dieser Vorstellung, so verlockend sie für manche auch sein mag, immer wieder in die Quere. Da studiert plötzlich ein Kind aus einer seit Generationen eher »bildungsfernen« Familie, da schafft der Akademikerspross mit Hängen und Würgen einen Abiturschnitt von 3,4. Man darf eben formale Bildung und Intelligenz, wie auch immer man sie definiert, nicht verwechseln. Es gibt zahlreiche Menschen, die trotz entsprechender Fähigkeiten keine Gelegenheit zu einer höheren Bildung hatten. Es soll sogar Leute geben, die ganz einfach andere Pläne für ihr Leben haben und beispielsweise lieber ein Handwerk erlernen als ein Studium zu absolvieren. Und wer glaubt, dass sich an den Hochschulen notwendigerweise ausschließlich die geistige Elite des Landes tummelt oder dass ein Studium zwangsläufig für eine hohe Wertschätzung von Bildung spricht, die dann auch eventuellen späteren Kindern als Wert vermittelt werden kann, der hat vermutlich noch nie einen Fuß in eine Universität gesetzt.
Das größte Schreckgespenst ist jedoch nicht der Rückgang der deutschen Bevölkerung allein, sondern die damit verbundene Alterung, also der erhöhte Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. »Deutschland vergreist«, »Vom Tannenbäumchen zur Urne«, »Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte sorgen« – mit diesen und ähnlich schrillen Äußerungen wird vor explodierenden Gesundheitskosten und Rentenbeiträgen gewarnt. Dabei ist der zahlenmäßige Anstieg älterer Menschen nichts Neues. Der Anteil der über 65-Jährigen an der europäischen Bevölkerung hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auf 15% verdreifacht, während die durchschnittliche Lebenserwartung auf 75 Jahre gestiegen ist und sich damit mehr als verdoppelt hat. 121
› Hinweis
Die Furcht vor der »Rentnerschwemme« – eine Formulierung, die schon Mitte der 1990-Jahre durch die Medien geisterte und 1996 völlig zu Recht zum »Unwort des Jahres« gekürt wurde – ist Ausdruck einer merkwürdigen Schizophrenie. Denn während der Einzelne die gestiegene Lebenserwartung für sich selbst als etwas Positives begrüßt, wird gesamtgesellschaftlich der Teufel an die Wand gemalt. Dies beruht auf hauptsächlich zwei immer wieder verbreiteten falschen Behauptungen.
Die erste falsche Behauptung lautet, dass das Tannenbäumchen, wie es noch 1910 dem Aufbau der deutschen Bevölkerung entsprach, die ideale Bevölkerungsstruktur darstellt. Das ist mitnichten der Fall. Tatsächlich bildet das Tannenbäumchen eine Bevölkerung mit hoher Kinder- und Jugendsterblichkeit und einer geringen durchschnittlichen Lebenserwartung ab, in der nur wenige Menschen ein hohes Alter erreichen. Bei einer hohen Lebenserwartung, wie wir sie heute genießen,
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