Kindermund (German Edition)
nie gewesen. Eine Gruppe von Hochhäusern in Grün, Lila, Gelb, Blau und Rosa erhebt sich vor mir. Die Farben sind blass. Beim Zählen der Stockwerke bis zwölf muss ich den Kopf weit in den Nacken legen. Mein Blick gleitet an den immer gleichen Fenstern vorbei wie ein Fahrstuhl und bleibt an einer der übergroßen Nummern, die auf jedes Haus gemalt sind, hängen. Darunter gähnt der Eingang wie ein alles verschlingendes Maul. Auf dem Platz davor Reihen von Mülltonnen. Fast alle quellen über vom Abfall, der sich auch auf dem Boden ausbreitet. Ich suche eine Tonne mit geschlossenem Deckel aus, ziehe den Stoffklumpen aus der Schultasche und versenke ihn im stinkenden Brei aus faulendem Müll. Als der Deckel zuschlägt, überfällt mich die Angst, und ich laufe, bis ich die Haltestelle erreiche. Fünf Minuten bis zur nächsten Abfahrt. Die Hauseingänge spucken vereinzelt Männer, Frauen und Kinder aus, die sich wie Roboter auf mich zubewegen. Noch nie habe ich einen Bus so sehr herbeigesehnt. Endlich kommt er und nimmt uns mit in die Stadt. An der Station »Heilig Blut« steige ich aus. Mein Ziel ist die Kirche auf der anderen Seite der Straße. Sie sieht nicht besonders einladend aus mit ihrer schmucklosen grauen Fassade und dem kantigen Turm. Nur die drei Fenster strahlen in kräftigem Blau. Mit all meiner Kraft stemme ich mich gegen das eiserne Portal und tauche ein in die Kühle, die nach Weihrauch und Holzbeize schmeckt. Einen Moment lang fängt mich die Stille hier drin ein. In der ersten Reihe kniet ein Mann, ins Gebet versunken. Ich knickse schnell in Richtung des Altars, wo ich den lieben Gott vermute, dann laufe ich nach links zu einem der Beichtstühle. Ich sehe mich um, prüfe, ob mich jemand erkennt, und schlüpfe hinein.
Der winzige Raum hüllt mich ein wie eine Decke. Ich will hier bleiben und auf den Pfarrer Oberbauer warten. Auch wenn es den ganzen Tag dauern sollte und die Nacht dazu. Der Priester erteilt uns Kindern Religionsunterricht in der Schule – er ist ein gütiger Mensch. Nur ihm werde ich das Geheimnis anvertrauen. Ich schiebe den Vorhang vor dem Fenster in der Tür des Beichtstuhls ein wenig zur Seite: Jesus hängt am Kreuz, die Dornenkrone bohrt sich schmerzhaft ins Fleisch, sein Kopf ist ihm auf die blutverschmierte Brust gesunken. Die Gestalt wirkt furchteinflößend, auch die Heiligenfiguren an der Wand kommen mir bedrohlich vor. Ich erwarte, dass eine von ihnen gleich blutige Tränen weinen wird. Ein Heiligenschein blitzt auf. Sofort lasse ich den Vorhang fallen.
Der Pfarrer muss gespürt haben, dass ich ihn dringend brauche, denn nach nicht allzu langer Zeit vernehme ich das vertraute Rascheln seines Gewandes. Ein Fensterchen in der Wand vor mir öffnet sich, und durch das Holzgitter kann ich seine Augen erkennen, die mich unverwandt ansehen: »Mein Kind, was führt dich zu mir? Was hast du auf dem Herzen? Sag mir, wie kann ich dir helfen?«
Ich mache den Mund auf, doch schließt sich plötzlich in meinem Hals eine Falltür, eisern und gnadenlos. Kein einziges Wort findet den Weg nach draußen. Ich kann nicht, ich bin stumm. Die warme Stimme des Priesters erreicht michnicht mehr. Ich springe aus dem Beichtstuhl und laufe davon. Von diesem Moment an ist alles vergessen. Das Ereignis im Hotel existiert nicht. Es hat nie stattgefunden. Die Tür bleibt zu. Alles ist eingesperrt in meiner Seele. Gefühle und Schmerzen lösen sich auf wie Gerüche.
Selbst später beim Beichten wird mir nicht einfallen, was passiert ist.
D ie Welt bleibt nicht stehen. Das Leben rollt weiter, als wäre nichts geschehen. Seit Babbo mich aus dem Schwimmbad geholt und ins Hotel vier Jahreszeiten mitgenommen hat, ruft er oft an und will mit mir sprechen. Dann raunt er mir ins Ohr, wie süß ich sei und wie sehr er sich nach mir sehne. Sein Flüstern wirkt bedrohlich auf mich, und das unangenehme Gefühl verschwindet erst wieder, wenn ich den Hörer auflege.
Seine Reisen unterbricht Babbo oft in München, um mich zu besuchen. Meistens bringt er mir Käthe-Kruse-Puppen mit, einmal, aus Spanien, eine Flamencotänzerin. Ihr Kleid ist rot mit schwarzen Punkten, es reicht in Stufen bis zu den Füßen. Ich hebe den Rock, um nachzuschauen, ob sie darunter nackt ist. Sie trägt eine Spitzenunterhose. Diese Besuche sind flüchtig wie ein Windhauch. Was von Babbo bleibt, sind die Puppen, ich klammere mich an sie.
Heute komme ich müde von der Schule nach Hause. Vor der Wohnungstür steht ein Riesenpaket. Mein Name
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