Kindermund (German Edition)
ist in Druckbuchstaben quer über die Pappe geschrieben. Ich hocke mich davor, weil ich wissen will, was drin ist, und entdecke zwei Speichenräder, die aus dem Karton blitzen. Ein neues Fahrrad für mich! Von Babbo! Ich muss sofort Rad fahren! Als ich die Wohnungstür aufschließe, schlägt mir Ekelgeruch ins Gesicht. Es gibt drei Hassessen für mich: Wirsing, Rehragout und Fisch blau. In der Küche ragen ein Fischmaul und zwei weiße Augen aus dem blubbernden Wasser. Es hat keinen Sinn, Mama zu fragen, ob ich die Mahlzeit auslassen und gleich mein neues Fahrrad ausprobieren darf. Deshalb setze ich mich schnell vor mein Ausziehbrett und warte auf den Teller, den Mama vor mir abstellt. Ich beuge mich über ein Stück Fisch, eine Kartoffel und einen Haufen Salat. Ich liebe Mamas Salat, aber nichteinmal der schmeckt mir heute, ich will nur raus! Kartoffel und Fisch zerdrücke ich mit der Gabel und schlinge den Brei hinunter.
Es dauert ziemlich lange, bis ich das Fahrrad von der Pappe befreit und den Müll in der Tonne im Hof verstaut habe. Jetzt steht es vor mir in seiner Pracht. Mein Papa hat es extra für mich mit dem Flugzeug aus Berlin geschickt! »Um sechs bist du zu Hause!«, ruft mir meine Mutter hinterher, während ich die Stufen hinuntersteige. Das neue Fahrrad auf meiner Schulter kommt mir leicht wie eine Feder vor. Viel Zeit habe ich nicht, es zu genießen, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich fliege durch die Straßen des Viertels, und als ich um sechs vom Rad steige, habe ich das Gefühl, ein Stück größer geworden zu sein.
Meine Freundin Michaela treffe ich meistens bei ihr zu Hause. Sie hat ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer für sich allein. Ihr Bett ist aus honigfarbenem Holz und hat die Form einer Muschel. Manchmal lege ich mich auf die Tagesdecke, rolle mich ein und stelle mir vor, ich sei eine Prinzessin. Michaelas Mutter, eine hagere Frau mit energischem Gesicht, ist nicht erfreut, wenn sie mich erwischt. Sie erklärt mir, dass Michaelas Zimmer in Empire eingerichtet ist. Alles Antiquitäten! Wenn sie mir die Tür öffnet, schaut sie immer prüfend an mir herunter. Ich schäme mich, weil meine Strumpfhosen geflickt sind. Aber dann lacht sie: »Komm, Michaela wartet schon!«
Meine Freundin zeigt mir oft ihre Fotoalben. Die Familie verbringt die Sommerferien in Saint-Tropez. Stolz präsentiert sie mir Bilder der Villa, vom Strand und von Pascal, ihrem Cousin. Michaelas Stimme verändert sich, wenn sie von ihm erzählt. Ihre Wangen färben sich rosa. Auf den Fotos ist ein etwa sechzehnjähriger Junge in Badehose und Strohhut zu sehen. Mal im Liegestuhl, mal Tischtennis spielend. Ich weiß nichts mit ihm anzufangen. Den Vater vonMichaela sehe ich fast nie. Er ist Arzt und ein hohes Tier bei der Bundeswehr. Michaela ist Einzelkind. Sie wird sehr geliebt und verwöhnt, das spüre ich.
In unserer Wohnung gibt es keine Antiquitäten, aber es werden oft Liederabende veranstaltet. Heinrich am Klavier, eine Geige und eine Bratsche begleiten Mama und einen Sänger. Die Vorstellung dauert meist bis spät in die Nacht. Die Nachbarn schlagen mit Besenstielen an die Wände.
Natürlich werden zu einem solchen Fest auch Gäste eingeladen. Zum Beispiel meine erste Lehrerin, Freunde von Heinrich und Mamas frühere Verehrer. Heinrich nennt sie »die ausgestopften Vögel«. Einer davon ist Onxganx. Er kommt immer schon am Nachmittag und steht gekrümmt und unbeholfen in der winzigen Küche herum, während Mama kalte Platten für den Abend vorbereitet. »Ich habe mir meinen Fraß selbst mitgebracht!«, sagt er jedes Mal und knallt die Aktentasche auf den Küchentisch. Die Risse und Furchen im speckigen Leder wirken wie Narben. Onxganx öffnet die Schlösser und klappt schwungvoll den Deckel auf. Plötzlich stinkt es nach Hafenbecken und ranziger Butter. Er zieht ein Paket, eingeschlagen in Zeitungspapier, hervor: »Fisch!«, ruft er. Mama schreit auf, ich halte mir die Nase zu und renne aus der Küche.
Es dauert Tage, bis der Gestank verflogen ist, obwohl Mama Tag und Nacht die Fenster aufreißt. Dabei schwört sie, dass sie ihm in Zukunft verbieten werde, sein Essen mitzubringen. Aber Onxganx lässt sich nicht davon abhalten.
Bevor der Abend losgeht, spüre ich eine Spannung im Raum wie kurz vor der Bescherung an Weihnachten. Ich sitze erwartungsvoll in einem Sessel und betrachte Onxganx, der sich auf das Sofa hat fallenlassen. Er hat die Augen geschlossen. Das Klavier beginnt, die Stimmen setzen ein.
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