Kindermund (German Edition)
müht, den Rahmen hochzuklettern. Noch einen Millimeter, geschafft! Nein! Es fällt zurück auf den Rücken, rudert mit den dünnen Beinen. Ich genieße kurz seine Hilflosigkeit, dann schubse ich es mit dem Fingernagel, bis es wieder steht. Das Tier reibt sich die Vorderbeine, sammelt sich und macht sich erneut auf den Weg, krabbelt hoch, fällt auf den Rücken, fleht zum Himmel. Es geschieht ihm ganz recht. Vorhin ist es auf meinen Bruchrechnungen herumspaziert und hat überall winzige Körner hinterlassen. Ich puste auf den Käfer, er schlittert wie auf einer Eisbahn übers Fensterbrett, ist weit weg von seinem Ziel. Aber er gibt nicht auf. Alles noch einmal von vorne, immer wieder, unermüdlich. Einfach ist sein Leben auch nicht! Der Käfer scheitert am Fensterrahmen, ich am Rechnen. Eine Zeitlang ist mir seine Gegenwart willkommen, er vertreibt meine Langeweile, lenkt mich von den Hausaufgaben ab. Ich beuge mich über den Tisch, schiebe mein Gesicht nah an ihn heran, so nah, dass ich meinen Mund aufsperren und ihn aufessen könnte, wenn ich wollte. Aber ich will nicht. Ich glotze den Käfer an, der Käfer glotzt zurück. Seine Fühler zittern. Dieser glänzende Panzer! Angewidert rücke ich ein Stück zurück. Was hast du hier zu suchen, dummer Käfer! Ein schneller Stoß gegen das Fenster, und vorbei ist es mit dir. Meine Finger jucken, ich forme aus Daumen und Zeigefinger ein L. Für den Käfer gibt es kein Entrinnen. Ich schlage das Fenster zu. Vorbei ist das Käferleben! Mein Blick wandert zu den Häusern gegenüber: Beige und stumpf stehen sie da. Geranien hängen aus den Blumenkästen auf den Einheitsbalkons. Braun-weiß gestreifte Markisen, Sonnenschirme, auch beige oder braun. Nur dass sich der eine aufgespannt präsentieren darf, während andere unbenutzt in der Ecke lehnen. Geraffte Gardinen, Orchideen und Gummibäume auf den Fensterbänken. Eine Frau erscheint, schüttelt ein Staubtuch aus, zupft an den Blüten. Sie schließt die Augen, reckt sich der Sonne entgegen. Bestimmt ist sie mit sich und ihrem Leben zufrieden. Ein Baby weint, sie lächelt und verschwindet. Mir geht dieser Abzählreim nicht aus dem Kopf: »Caterina Valente, hat ’n Arsch wie ’ne Ente, hat ’n Bauch wie ’ne Kuh – und jetzt bist es du …« Ich flüstere den Text. Der Füller hüpft wie ein Taktstock auf und ab.
Plötzlich Geräusche in meinem Rücken. Ich drehe mich um, sehe, wie meine Mutter und Heinrich von einer unsichtbaren Macht rechts und links an den Türrahmen gepresst werden, dann drängt sich mein Vater an ihnen vorbei ins Zimmer. Er küsst mich unzählige Male auf den Kopf, verwuschelt meine Haare, presst mich an seinen Körper. Penetranter Parfümgeruch hüllt mich ein. Ich wehre mich nicht. Starr lasse ich die Liebkosungen über mich ergehen. Er zieht mich hoch und verkündet unter weiteren Küssen auf Augen und Mund, dass ich jetzt sofort mit ihm nach Berlin fliegen werde in sein Haus, zu seiner neuen Frau und seinem Kind. Der Füller fällt auf die Tischplatte, ich schaue hilfesuchend zu Mama, zu Heinrich, dann wieder zu Mama. Sie sehen mich nicht an, ihre Gesichter sind ausdruckslos. Babbo führt mich an ihnen vorbei aus dem Zimmer. Ich suche Mamas Blick, will, dass sie mich aufhält, dass sie ihm untersagt, mich mitzunehmen. Keine Regung. Sie steht nur stumm dabei. Willenlos folge ich meinem Vater aus der Wohnung. An der Schwelle drehe ich mich noch einmal zu Mama um. Sie hat den Kopf gehoben, blickt an mir vorbei, als würde ich hinter mir stehen, da werde ich auch schon weitergezogen, durchs Treppenhaus, ins Freie. Die Luft riecht frisch. Noch einmal schaue ich hoch zu unserer Wohnung, wünsche mir Mamas Gesicht am Fenster, dass sie sich weit überdas Balkongeländer lehnt, mich ruft. Dass sie mir nachläuft, vier Stockwerke nach unten, schreit, mich packt, mich ihm entreißt. Nichts geschieht. Ich steige in ein wartendes Taxi, fühle mich unwirklich. Das Taxi bringt uns zum Flughafen. Kurze Zeit später sitze ich angeschnallt in einem Sessel, das Flugzeug rast über die Rollbahn, hebt ab, schießt steil in den Himmel, die Erde unter mir wird schief. Meine Finger krallen sich ins Polster, mir ist mulmig. Vielleicht komme ich nie mehr zurück! Ich fliege Berlin entgegen und suche tief unten auf der Erde mein Wohnhaus. Steht Mama auf dem Balkon und schaut mir nach? Ich fühle mich immer noch kraftlos, kann nichts sagen. Meinen Vater scheint mein Zustand nicht zu stören. Er schweigt und foltert meine
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