Kindermund (German Edition)
vor all den Kindern und schaue nicht aus dem Fenster.
Im Auto überschüttet er mich mit den üblichen Schmeicheleien: »Du mein Engelchen! Mein geliebtes Kindchen,du! Mein Püppchen! Ich bin auf der Durchreise in München, ich werde die Zeit mit dir verbringen!« Er verlangt, dass ich etwas Festliches anziehe, wir würden später mit seiner Agentin essen gehen. Also fahren wir nach Hause. Meine Mutter gibt mir mein Kommunionskleid und den passenden weißen Mantel dazu. Keiner fragt mich, ob ich das anziehen oder überhaupt mitgehen will. Bevor ich nachdenken kann, sitze ich wieder neben Babbo im Auto, und wir brausen davon.
Im Restaurant langweile ich mich. Die Begeisterung von Babbo und seiner Agentin über die kometenhafte Karriere meines Vaters und die Aussicht auf künftige Filmprojekte interessieren mich wenig. Ich grüble darüber nach, ob Mama meinen kleinen Bruder lieber hat als mich und ob sie gerade an mich denkt. Mit Flötenstimme preist die Agentin das köstliche Mahl – »mit Abstand das Beste, was ich jemals zu mir genommen habe!« –, dann schmeichelt sie sich bei mir ein: »Sag mal, Kleine, möchtest du ein Kinderstar werden?«
Ich habe keine Lust zu antworten. Anscheinend ist der Dame entgangen, dass ich für Kost und Logis bei Mutter und Stiefvater längst mit meinen Filmgagen zahle. Babbo streicht über mein Gesicht, als wäre ich ein Schoßhündchen, und lächelt abwesend. Die Agentin widmet sich eingeschnappt ihrem Eisbecher, und ich denke weiter darüber nach, wie es wäre, mit Mama weit weg zu gehen … nur wir beide.
Plötzlich reißt mich das Geschrei meines Vaters aus meinen Träumen, ich werde auf die Straße geschleift und versuche zu verstehen, was passiert ist. Er keift, brüllt, er beschimpft Lokalbesitzer und Kellner mit den übelsten Ausdrücken. Offenbar war irgendetwas nicht nach seinem Geschmack. Die Agentin hat es auf einmal furchtbar eilig, sie verabschiedet sich theatralisch und stöckelt davon in den frühen Abend.
Mein Vater kann sich nicht beruhigen. Er erklärt jetzt mir, was für Kretins, für Arschlöcher, für Analphabeten das doch seien. Die Ader auf seiner Stirn quillt gefährlich hervor. Hoffentlich platzt sie nicht! Eigentlich möchte ich jetzt auchnach Hause, aber er muss ganz dringend und sofort in sein Hotel und einen Anruf erledigen. Er tut so, als würde es um Leben und Tod gehen. Ich frage lieber nicht nach. Die Limousine schaukelt durch die Maximilianstraße. Wie für ein Fest poliert, glänzen Schaufenster und Fassaden im Licht der Abendsonne. Der Chauffeur bremst vor einem Palast aus Glas. Über dem Portal steht in goldenen Buchstaben Hotel vier Jahreszeiten. Zwei Männer in dunkelblauer Uniform, die aussähen wie Schiffskapitäne, hätten sie nicht einen Zylinder auf ihrem Kopf, stürzen herbei, reißen die Autotüren auf und verbeugen sich tief. Babbo lässt nicht zu, dass sie mir heraushelfen. Nur er darf das. Dann wühlt er aus seiner Hosentasche ein Bündel Geldscheine und stopft sie den beiden in die bereitgehaltenen Hände. Die Zylinder werden gleichzeitig gelüpft.
Ich fühle mich verloren in der riesigen Hotelhalle. In den zahlreichen Sofas und Sesseln lümmeln Menschen, die auf mich den Eindruck machen, als wüssten sie nichts mit sich anzufangen und wären auch lieber an einem anderen Ort. Der Fahrstuhl gleitet nach oben. Ich beobachte den sehr jungen Pagen in seiner roten Uniform. Er sieht affig aus mit der schiefen Camembertschachtel auf dem Kopf. Trotz unterm Kinn festgezurrter Goldkordel ist sie ihm übers linke Auge gerutscht. Die Nase in die Höhe gereckt, fixiert er mit wichtiger Miene die Schaltknöpfe vor ihm, als würde der Fahrstuhl sich nur seinetwegen bewegen. Er würdigt mich keines Blickes. Nur als ich an ihm vorbeigehe, blinzelt er mir unter der Mütze heraus zu.
Babbo stößt die Tür auf: ein Salon wie im Märchen. Die schweren meergrünen Vorhänge sind zugezogen, doch die untergehende Sonne bahnt sich den Weg durch einen Spalt. Alles glänzt und glitzert in diesem Raum. Die Bilder an den Wänden, das Holz der Möbel, Fenster-und Türgriffe, selbst Lichtschalter und Steckdosen. Überall liegen aufgeklappte Koffer. Kleidungsstücke, Tücher, Schuhe sind über den Boden verstreut. Vasen scheinen zusammenzubrechen unter der Last von Rosen und Lilien. Der Duft ist beißend und schwer, er ekelt mich. Babbo zeigt mir seine Schätze, lässt mich alles anfassen. Dann nimmt er sanft meine Hand und führt mich zu dem Bett, das
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