Kindermund (German Edition)
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Onxganx lächelt, vollkommen erfüllt lauscht er den Stimmen, der Musik. Onxganx ist immer der letzte Gast. Erst wenn alle anderengegangen sind, bestellt er sich ein Taxi. Er zehrt lange von einem solchen Erlebnis.
Großvater kann nicht mehr als Arzt arbeiten und auch nicht allein leben. Deshalb nimmt ihn meine Großmutter wieder bei sich auf und versorgt ihn. Als er sich für ein paar Tage von Mama pflegen lässt, schickt sie mich einmal zu ihm ins Bett, ich soll dem armen Vaterle Gesellschaft leisten, der ist so allein! Ich zögere, bleibe auf der Bettkante sitzen, denn mein Großvater verbreitet den unangenehmen Geruch nach Zigaretten im ganzen Kinderzimmer, in dem ihn Mama untergebracht hat. Mein Bruder schläft in dieser Zeit bei Mama und Heinrich, ich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Großvaters Gesichtshaut ist grau. Einige Finger haben sich vom Rauchen dunkelgelb verfärbt. Die Nägel sind lang und ebenfalls braungelb. Obwohl ich mich ekle, schlüpfe ich zu ihm unter die Decke. Kopfkissen und Bettdecke stinken nach Speichel und nächtlichem Schweiß. Ich würge, traue mich aber nicht, aufzustehen. Plötzlich spüre ich Hände unter der Decke, die nach mir suchen. Knochige Finger erwischen mich, grapschen zwischen meine Beine. Ich stürze aus dem Bett ins Bad, verstecke mich neben der Waschmaschine. Erst als längere Zeit nichts zu hören ist, wage ich mich zu Mama und frage, ob ich baden darf. Sie wundert sich zwar, hat aber nichts dagegen. Es dauert, bis die Wanne bis oben hin voll ist. Ich steige hinein und tauche unter, bis nur noch meine Nase aus dem Schaumgebirge schaut.
Babbo tritt im Deutschen Museum auf. Ein Rezitationsabend mit Monologen von Schiller, Gedichten von Baudelaire und Rimbaud. Er hat gestern angerufen und Mama und mir befohlen, in die Vorstellung zu kommen. Karten für uns lägen an der Abendkasse.
Mama und ich fahren mit der Straßenbahn zum Deutschen Museum. Wir nehmen in einer der ersten Reihen Platz. Ichbin total aufgeregt, ich habe Babbo noch nie auf der Bühne gesehen. Das Licht geht aus. Dann leuchtet ein Scheinwerfer Babbo an, der gerade vor den weinroten Samtvorhang schlüpft. Die Luft knistert. Babbo steht und schweigt. Ich betrachte die Staubkörnchen über mir. Babbo beginnt zu sprechen. Unterdrücktes Räuspern. Babbo spricht weiter. »Sein oder nicht sein …« Babbo schweigt. Das Räuspern und Hüsteln wird lauter. Sein Schweigen dehnt sich unerträglich, dann: »Die Drecksäue dahinten halten jetzt sofort die Schnauze, oder ich gehe nach Hause, und keiner kriegt sein Eintrittsgeld zurück!« Und als sei nichts gewesen, fährt er fort: »… das ist hier die Frage!« Das Publikum johlt, dann ist es still. Ich sinke tief in meinen Sitz und schäme mich zu Tode.
Nach der Vorstellung bahnen sich Mama und ich den Weg zu den Garderoben. Ich halte den Kopf gesenkt, will von niemandem gesehen werden. Wir klopfen, Babbo reißt die Tür auf, stürzt mir entgegen. Ich klebe an seiner Brust, er schlägt die Tür hinter uns zu. Es klopft erneut. Ein überlebensgroßes Ölgemälde steht vor der Tür. Darauf ist ein Kopf mit weit aufgerissenen Augen und dicken Lippen in knalligen Farben zu sehen. Hinter dem Bild lugt schüchtern das Gesicht eines Mannes hervor: »Herr Kinski, ich bin Ihr größter Bewunderer! Ich habe Sie in Öl verewigt!« Babbo schreit auf, als hätte er sich in ein Rattennest gesetzt: »Das ist ja widerlich! Schafft mir den Kerl aus den Augen! Dieser Kretin! Diesen Dilettantenschrott werft sofort auf den Müll!« Die Aufpasser drängen den Mann sofort aus der Tür, schicken ihn samt seinem Gemälde weg.
Später werden wir von den Aufpassern am Hinterausgang durch ein Spalier von Fans geleitet. Hände mit Stiften und Fotos strecken sich Babbo entgegen. Die Leute haben stundenlang hier draußen auf ein Autogramm gewartet. Babbo hält schützend eine Hand über mich und wehrt mit der anderen die Menschen ab, als wären sie Insekten. Ich werdeins tiefe Polster einer Limousine mit schwarzen Scheiben gedrückt. Mama sitzt neben dem Chauffeur. Mein Vater wirft sich neben mich auf die Rückbank. Der Wagen schießt los wie ein Pfeil, die enttäuschten Gesichter der Fans bleiben zurück. Babbo hält mich fest im Arm, und ich fühle mich furchtbar unwohl.
D er Käfer hat es gut! Er muss sich nicht mit Rechenaufgaben rumschlagen! Ich sitze im Kinderzimmer am Schreibtisch vor dem offenen Fenster und verfolge das schwarze Insekt, das sich
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