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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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nur noch schlimmer. Außerdem muss er jetzt gehen, Mama wartet schon auf ihn. Wie immer ist er zu spät. Mit offenem Hemd rennt er an mir vorbei. Die Haare fliegen, er quasselt vor sich hin, kommentiert jede seiner Handlungen und Bewegungen und stürzt aus der Wohnung. Ich spüle das Geschirr, trockne ab, räume auf, so gut ich kann. Dann stelle ich mich ans Fenster und rühre mich nicht von der Stelle, obwohl ich dringend aufs Klo muss. Aber die Angst, den Moment der Ankunft zu verpassen, ist schlimmer. Vor Aufregung und weil die Blase drückt, hüpfe ich von einem Bein aufs andere. Endlich! Da sind sie! Das Taxi fährt vor. Heinrich und der Fahrer öffnen die Türen. Mama steigt aus dem Wagen, hält ein Bündel an ihren Busen gedrückt. Sie sieht verändert aus. Kein Blick nach oben zu mir. Ich springe, mehrere Stufen auf einmal nehmend, ihr entgegen, will sie umarmen, meinen kleinen Bruder anfassen. Mama weicht zurück. Sie hält ihre Hand über das Köpfchen, als müsse sie das Baby vor mir schützen. »Lass das Kind und mich doch erst mal ankommen!« Enttäuscht trabe ich neben ihr die Treppen hoch. Die Begrüßung habe ich mir ganz anders vorgestellt.
    In den nächsten Wochen und Monaten sehe ich Mama kaum. Ich habe das Gefühl, sie meidet mich. Manchmal, wenn die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen steht, sehe ich, wie sie den Kleinen stillt, ihn küsst, ihre Wange an seine legt. Mich behandelt sie immer nur kühl und abweisend. Dafür ermahnt sie mich regelmäßig, froh und dankbar zu sein, dass Heinrich mich mitgeheiratet hat. Das sei schließlich nicht selbstverständlich. Nachts im Bett spiele ich immer dasselbe Spiel mit mir selbst: Bin ich da, oder bilde ich es mir nur ein? Bin ich, oder bin ich nicht, bin ich …? Wenn ich jetzt stürbe, tot wäre, einfach verschwände, es würde keinem auffallen.
    Mein Wohnrecht verdiene ich mir mit Rollen in zahlreichen Filmen. Als ich noch der Waldbauernbub war nach derErzählung von Peter Rosegger wird auf einer Alm gedreht. Ich darf in der Schule fehlen und mit dem Filmteam und meiner Großmutter drei Wochen nach Österreich fahren.
    Geld sehe ich nie. Auch wird kein Konto für mich angelegt. Wofür Mama und Heinrich meine Filmgagen ausgeben, erfahre ich nicht.
    Wir essen zu viert immer in der Küche, obwohl im Wohnzimmer ein Esstisch für acht Leute steht. Mama, Heinrich und mein kleiner Bruder im Kinderstuhl sitzen um den Küchentisch herum. Sie lachen, plappern, haben Spaß miteinander. Für mich ist da kein Platz. Deshalb ziehe ich dreimal am Tag das Brett aus der Arbeitsfläche über dem Mülleimer heraus. Ich stelle meinen Teller drauf und schiebe den dreibeinigen Hocker unter meinen Po. Was ich esse, schmecke ich nicht. Dem Rest der Familie kehre ich den Rücken zu, nur die Wand leistet mir Gesellschaft. Für mich ist das normal, ich kenne es nicht anders.

E s ist ein heißer Spätsommertag. Meine Freundin Michaela und ich genießen den Nachmittag im Freibad. Wir wälzen uns im Gras, entspannen auf unserer Decke und tuscheln über die Leute. Manchmal nehmen wir all unseren Mut zusammen und springen vom Drei-Meter-Brett. Der Kiosk besitzt große Anziehungskraft: Horden von Kindern warten auf Bratwurst oder Pommes frites. Wir stellen uns an, um ein Capri-Eis zu kaufen. Das dauert nicht so lange. Die Eisschlange ist kürzer als die für Pommes frites.
    Immer wieder kreuzt ein fremder Mann unseren Weg. Er ist alt, trägt schulterlange graue Haare und präsentiert seinen von jahrzehntelangem Sonnenbaden ausgedörrten Körper in einem violetten Stringtanga. Den Nabel seines faltigen Bauches schmückt eine rosa Hibiskusblüte, er benimmt sich ziemlich auffällig: Er gockelt vor uns Mädchen auf und ab, zwinkert uns zu. Wir drehen uns weg. Das scheint ihm zu gefallen, er kommt näher, spricht uns an, wird aufdringlich. Wir laufen über die Liegewiese zu unseren Handtüchern bei den Büschen. Er verfolgt uns. Schauen wir uns um, verschwindet er hinter einem Baum. Wir fühlen uns unwohl, der Badetag ist uns verdorben. Wir suchen unsere Sachen zusammen und wollen gerade gehen, als es schneidend aus den Lautsprechern schallt: »Das Mädchen Pola soll zur Kasse kommen!« Nach einer Schrecksekunde folge ich der Automatenstimme wie ferngesteuert. Meine Freundin und den Mann habe ich vergessen. Plötzlich stehe ich meinem Vater gegenüber. Der umarmt mich übertrieben stürmisch, zerrt mich am Arm zum Ausgang und drückt mich in eine Limousine mit Chauffeur. Ich schäme mich

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