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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Hand mit seiner Zunge.
    Irgendwann ertrage ich das Geschlecke zwischen meinen Fingern nicht mehr. Ich reiße meine Hand aus seinem Mund, verstecke sie zwischen meinen Beinen. Ich habe Angst vor dem, was jetzt kommt. Packt er mich, schüttelt er mich, brüllt er mich an? Weil nichts passiert, wage ich einen schüchternen Blick, ohne den Kopf zu drehen. Er verzieht das Gesicht, als hätte ich ihm Schlimmes angetan, sieht aus dem Fenster, leidet. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Da fällt mir ein, dass ich nichts mitgenommen habe, keine Jacke, keine Zahnbürste, nichts. Die Maschine setzt zur Landung an, rast über das Rollfeld, Bremsen heulen auf. Ich habe Angst und fange an zu weinen. Ein freundliches Stewardessengesicht mit Hütchen und Zahnreihen wie eine Perlenkette, umrahmt von knallroten Lippen, beugt sich über mich und versichert, dass alles in Ordnung sei. Inzwischen hat sich mein Vater schon erhoben: »Mein Püppchen, wir sind in Berlin!«, flötet er, schiebt mich durch den schmalen Gang hinaus, die Treppe hinunter, in den Bus, durch die Halle und dann in ein Taxi. »Griegstraße 14! Grunewald!«, schnauzt er den Fahrer an. Wir sitzen beide auf der Rückbank. Er drückt mich ständig an seinen Körper, ich spüre seine Wärme. Draußen dämmertes. Lichter fliegen vorbei. Als wir ankommen, ist es Abend geworden. Ein hoher Eisenzaun. Speerspitzen ragen in den Himmel. Sie drohen jedem Eindringling: Versuch es nur, es wird dich dein Leben kosten! Dahinter ein Schloss aus grauem Stein mit Fenstern so hoch wie Türen, aber nirgends ein Licht, kein einziges, nicht mal ein kleines. Ein Geisterhaus? Wo ist seine Frau, wo das Kind? Ich habe die beiden erst einmal zuvor in München gesehen. Ich will auf keinen Fall mit ihm allein sein in diesem Haus ohne Licht! Er wirft ein Bündel Scheine durchs Fahrerfenster ins Taxi, sucht in seinen Hosentaschen nach den Schlüsseln, findet sie nicht gleich, flucht, dann endlich schließt er das Tor auf. Es dauert eine Ewigkeit. Der Weg zum Haus ist kurz. Eine Steintreppe führt zur Eingangstür, auch sie hundertmal gesichert. Sie öffnet sich ins Nichts. Immer noch kein Licht. Ich fürchte mich, will zu meiner Mutter. »Pssst, keinen Laut! Du bist die Überraschung!«, raunt er. Es riecht wie in einer Kirche und in Tausendundeiner Nacht. Mir fällt das Atmen schwer. Er muss mich vor sich her schieben, denn ich habe Angst, einen falschen Schritt zu machen. Jetzt betreten wir ein Zimmer, Babbo lehnt mich an eine Wand. Sie ist feuchtkalt. Ich spüre seine Hände unter meinem Kleid, Finger schieben meinen Schlüpfer zur Seite. Seine Zunge, mir wird übel. »Du geliebtes Püppchen, du, ich habe mich so sehr nach dir gesehnt!«, flüstert er. Aus der Ferne sind Stimmen zu hören. Er lässt augenblicklich von mir ab und stürzt hinaus. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Überall Fenster, die bis zur Decke reichen. Ich sehe mich schemenhaft in einem Spiegel, hinter einer Tür versteckt. Alle Wände sind Spiegel, auch die Decke. Ein Spiegelsaal, er ist vollkommen leer. Was soll ich hier, ich will wieder nach München! Licht wird angeschaltet, die Tür fällt zu, und ich stehe im Scheinwerferlicht vor meiner Stiefmutter und meiner Schwester. »Oh, wie süß, wie entzückend!«, piepsen sie. Sie gaffen mich an. Ich schäme mich, die beiden fassen mich an, streicheln meine Arme,meine Wangen. Als ich spüre, dass sie mir nichts Böses tun wollen, beruhige ich mich etwas.
    Meine kleine Schwester will mir unbedingt alle Zimmer zeigen. Der Spiegelsaal hier dient meinem Vater zum Proben seiner Rollen. Durch eine Flügeltür gelangt man in ein Esszimmer, in dem ein wuchtiger Eichentisch steht. Außerdem gibt es mehrere Schlafzimmer, ein Bad, eine Küche und noch einige Türen, die aber abgeschlossen sind. Licht wird fast nirgends angemacht, es kommt nur indirekt von irgendwoher.
    Meine Stiefmutter haucht, sie wolle das Kind zu Bett bringen, und trippelt mit der Kleinen davon. Ich traue mich nicht, aufzusehen, denke ganz fest an Mama, es nützt nichts. Er legt seinen Arm um meine Schulter, zwingt mich zum Esstisch. Er kniet sich vor mich auf den Boden, zieht mich aus, behutsam. Er sieht meine Angst, schüttelt den Kopf, lächelt, quält mich weiter. Aus der Tiefe des Hauses dringt kaum hörbar ein Schlaflied. Wer singt für mich? Ich weine leise, Tränen laufen über mein Gesicht. Dann spüre ich nichts mehr, komme erst wieder zu mir, als eine Hand meinen Mund verschließt,

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