Kindermund (German Edition)
ankommen. Er ist aufgeregt, läuft um das Auto herum, reißt die Tür auf und hilft mir hinaus. »Komm, komm, beeil dich!« Er läuft in Richtung derStälle, ich versuche, mit ihm Schritt zu halten. Vorbei an den Koppeln, der Weide. Tautropfen glitzern auf den Grashalmen, kein Mensch ist zu sehen. Wie getrieben eilt er weiter. »Komm, komm!«, drängt er gereizt, ich hetze hinter ihm her. Der Abstand zwischen uns wird größer, er dreht sich um, stürzt auf mich zu, packt mich an der Schulter und zerrt mich zu einem Stall. Mit einer einzigen Bewegung schiebt er das Tor auf. »Komm! Komm endlich rein!«, schnauzt er. Mir ist schwindlig, ich tue, was er verlangt. Denn was mein Vater sagt, ist Gottes Wort auf Erden. »Er gehört dir, mein Püppchen!«, schmeichelt mein Vater. »Sein Name ist Löwe, ich lasse ihn dir nach München schicken!« Vor mir steht ein Pferd, riesengroß, dunkelbraunes Fell, schwarze Augen. Was soll ich denn mit einem Pferd? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er lässt mich allein, Gott sei Dank! Unbeholfen mache ich ein paar Schritte auf das Tier zu, streichle es. Dann höre ich das Gebrüll meines Vaters, vergesse Löwe und renne hinaus. Er hat inzwischen Kosak aus dem Stall geholt und versucht, ihn zu reiten, reißt am Zaumzeug. Kosak wiehert kläglich. Er stolpert mehr, als dass er läuft. Auf seinem Rücken tobt ein Dämon in Gestalt meines Vaters. Der Hengst scheut. Mein Vater schlägt ihm seine Hacken in die Flanken. Das Tier, schweißnass, schreit vor Schmerz. Mein Vater schlägt besinnungslos auf es ein. Das Pferd bäumt sich auf, wirft seinen Reiter ab und galoppiert davon, als sei ihm der Teufel auf den Fersen. Er streift eine Stalltür, reißt sich die Flanke auf. Blut spritzt auf den Kies. Mein Vater wühlt sich aus dem Dreck, flucht, brüllt dem Pferd die ordinärsten Ausdrücke hinterher. In seinen Mundwinkeln bilden sich Schaumklümpchen. Mittlerweile rotten sich Schaulustige zusammen. Sie raunen, kichern, empören sich, und ich möchte am liebsten unsichtbar sein.
Heute darf ich zurück nach München. Endlich! Während des Flugs überfallen mich wirre Gedanken. Freue ich michwirklich auf zu Hause? Auf die enge Wohnung? Mamas und Heinrichs Kälte? Wenn ich jetzt abstürze, würden mich weder Mama noch Heinrich vermissen. Im Gegenteil, sie wären mich endlich los! Und Babbo? Der wäre unglücklich! Er liebt mich nämlich unendlich, sagt er. Er möchte mich Tag und Nacht um sich haben. Am liebsten wäre ihm, ich würde zu ihm ziehen.
M ama steht am Ausgang. Ich stürze ihr entgegen, klebe an ihrem Hals, atme den Geruch ein, den ich so sehr vermisst habe. Sie macht sich steif, drückt mich ein Stück von sich weg und sagt: »Da hat jemand angerufen. Du sollst wieder in einem Film spielen, ich weiß nicht genau, worum es geht. Morgen holen sie dich ab für Aufnahmen.« Ich schaue auf das Päckchen, das ich den ganzen Flug über in den Händen gehalten habe. Das Seidenpapier ist zerdrückt, die Schleife hängt schief. Dann halte ich es ihr entgegen.
Die Wohnung, die Atmosphäre hier kommen mir fremd vor, obwohl alles unverändert ist. Ich dränge Mama, endlich das Päckchen aufzumachen. Mein Geschenk ist ein Spitzennachthemd mit dazu passendem Morgenmantel. Babbo und ich haben es gemeinsam ausgesucht. Sie betrachtet sich im Spiegel. Es gefällt ihr.
Der Regisseur holt mich von der Schule ab. Gemeinsam mit dem Kameramann fahren wir zum Oktoberfest. Er erklärt mir die Geschichte: Ein Mädchen, etwa elf Jahre alt, treibt sich allein auf dem Oktoberfest herum. Sehnsüchtig sieht es den Kindern zu, die im Kettenkarussell fliegen oder im Riesenrad sitzen und München von weit oben betrachten können. Oder es schielt neidisch auf die Mädchen und Jungen, wie sie an ihrer Zuckerwatte schlecken. Diese Elfjährige wird wiederum von einem älteren Herrn beobachtet. Er nähert sich ihr, spricht sie an. Zuerst zögert das Kind, denn die Mutter hat es ermahnt: »Lass dich nie von einem Fremden ansprechen …« Aber dann kann es den Versuchungen von Lebkuchenherz, Karussell und Achterbahn nicht widerstehen. Am Schluss lockt der Mann das Kind hinter die Schaustellerwagen …
Während der folgenden Drehtage fühle ich mich komisch.Ich weiß, dass der Mann ein Schauspieler ist, trotzdem ist er mir unheimlich. Vor allem, als er in der Geisterbahn seine Hand auf meinen Schenkel legt, ist mir mulmig. Und hinter den Wagen, wenn er die Knöpfe meines Mantels öffnet, bekomme ich richtig Angst. Ich
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