Kindermund (German Edition)
eine Woche vorher meinen Koffer packe. Mehrmals am Tag lese ich das Flugticket. Ich habe Angst vorm Fliegen, aber ich lasse mir vor Mama nichts anmerken, sonst überlegt sie es sich vielleicht noch mal.
In der letzten Nacht vor meiner Reise träume ich von Flugzeugen, die senkrecht vom Himmel stürzen. Was, wenn es wirklich passiert? Wenn ich meine Mama nie mehr wiedersehen werde?
Gegen fünf Uhr stehe ich auf, dusche und ziehe mich an. Das blaue Samtkleid. Eigentlich ist es zu kurz, weil mein Vater alles zu knapp kauft. Aber alle anderen Sachen ausBerlin hat Mama Heinrichs Nichten geschenkt. Gefragt wurde ich nicht. Die Angst vorm Fliegen ist jetzt verschwunden. Ich könnte in die Luft springen vor Freude, laufe vor Mamas Zimmer auf und ab. Die Minuten, bis ich an die Tür klopfen und sie wecken darf, werden zur Ewigkeit. Warum bewegt sich Mama denn so langsam? Warum macht sie jeden Handgriff wie in Zeitlupe? Ist das Absicht, um mich zu ärgern, oder bilde ich es mir nur ein, weil ich es nicht erwarten kann, abzureisen?
Mamas Freundin Miez, die gegenüber wohnt, fährt uns mit ihrem Auto zum Flughafen. Die Verabschiedung ist kurz. Sie warten noch, bis ich durch die Absperrung geschleust werde, dann gehen sie. Ich sehe Mama nach, ob sie mir winkt, aber sie dreht sich nicht mehr um. Ab jetzt muss ich allein weitergehen, allein einsteigen, allein fliegen, allein abstürzen … Quatsch!
Durchsage aus dem Lautsprecher: Die Passagiere müssen sich anschnallen. Die Maschine rast los, sie hebt ab, meine Finger verkrampfen sich zu einem Gebet: »Lieber Gott, bitte, bitte, lass mich zu Mama zurückkommen!« Eine Stewardess mit Hütchen auf der Hochfrisur hat Mitleid mit dem einsamen Kind in der ersten Klasse und arrangiert für mich einen Aufenthalt im Cockpit. Ich darf hinter dem Kapitän sitzen. Er erklärt mir die Lichter und Knöpfe vor und über mir. Vor lauter Stolz kann ich ihm kaum zuhören. Plötzlich setzt er mir einen Kopfhörer auf. Die Crew lacht sich schief. Überhaupt haben sie viel Spaß bei ihrer Arbeit.
Zum Landen muss ich wieder auf meinen Platz zurück. Im Strom der anderen Fluggäste gelange ich in die Halle. Menschen schwirren um mich herum. Sie alle haben ein Ziel. Nur ich stehe hier allein, ratlos, halte Ausschau nach meinem Vater. Er wollte mich doch abholen! Vielleicht streitet er gerade mit Biggi und hat mich vergessen. Da entdecke ich ihn, aber er sieht mich nicht. Sein Gesicht wirkt schlaff, er sieht böse aus. Am liebsten würde ich umkehren, mich verdrücken, imKlo verstecken. Dann würde er von Schalter zu Schalter laufen, nach mir fragen, die Angestellten anschnauzen, weil sie ihm keine befriedigende Auskunft geben können. Er würde toben vor Wut, hin und her rennen, und irgendwann würde er sich laut pöbelnd trollen. Ich würde vorsichtig den Kopf rausstrecken, sehen, ob die Luft rein ist, und dann laufen, laufen, immer weiter. Raus aus dem Flughafen, weiter über Felder, über Sand bis zum Meer. Aber ich muss meine Spuren verwischen, sonst folgt er mir. Er findet mich überall auf der Welt. Da erspäht er mich schon in der Menge der Passagiere, ich winke, sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Wir laufen uns entgegen, er schnell, ich zaghaft. Er umschlingt mich, bedeckt mich mit Küssen, Küssen, Küssen … Er verwuschelt schon wieder meine Haare! Ich kann das nicht leiden! Er hält mich fest im Arm, lässt mich nicht los, während er mit einer Hand nach meinem Koffer greift.
Es fällt mir schwer zu laufen, so sehr hängt er sich an mich. Ich spüre die Blicke der Menschen. Bestimmt schauen sie alle auf uns. Es ist mir so peinlich! Draußen öffnet er mir die Tür seines Sportwagens, küsst mich mit offenen Lippen. Ich steige ein und wische mir heimlich die Nässe mit dem Handrücken vom Mund. Er rutscht auf den Fahrersitz, und wir rasen nach Rom. Mein Vater hält immer noch meine Hand, er sieht streng geradeaus, manchmal lächelt er mich an, manchmal flucht er. Sonst sagt er nichts. Doch, einen Satz sagt er immer wieder: »Ich habe mich so unendlich nach dir gesehnt!«
Allmählich werden die Häuser weniger, die Bäume mehr. Der Wagen fliegt die vielen Kurven hinauf, schließlich durch ein Tor. Wir sind da. Zwei mehrstöckige Häuser strahlen weiß aus üppigen Pflanzen. Schon die Eingangshalle glänzt in Marmor. Sechs Stockwerke mit dem Fahrstuhl. Hoffentlich bleiben wir nicht stecken! Ich höre auf zu atmen, bis sich die Türen öffnen. Es riecht nach feinem Leder, nach
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