Kindermund (German Edition)
renne schreiend davon.
Der Film wirke sehr echt und authentisch, heißt es, als er zu Ende gedreht ist. Er wird zur Abschreckung in Schulen gezeigt. Von der Gage sehe ich wie üblich keinen Pfennig.
Die Reitstunden wälzen sich zäh dahin, Pferde bleiben mir fremd. Als ich einmal in die eitrige Wunde eines Gauls fasse, ist mein Ekel so stark, dass ich die Stunde abbreche und die Reitschule verlasse. Auf Löwe warte ich vergeblich. Er kommt nie in München an. Mein Vater faselt etwas von Krankheit, ich glaube ihm kein Wort. Aber es ist nicht schlimm, denn ich habe sowieso keine Lust auf Pferde und Reiten.
Wenn Mama und Heinrich ausgehen, soll ich den Schlaf meines kleinen Bruders bewachen. Etwa eine halbe Stunde nachdem sie die Wohnung verlassen haben, hole ich ihn schlafend aus seinem Bettchen und stelle ihn im Flur direkt unter die grelle Deckenlampe. Es macht mir Spaß, zu sehen, wie er hilflos torkelt, zurück ins Kinderzimmer will. Ich schneide ihm den Weg ab und geleite ihn in mein Bett. Dort darf er sich dann breitmachen. Mama erzählt, dass sie mich an den Rand des Bettes gekauert fanden, während er quer über mir lag.
Nachts liege ich oft wach, kann nicht schlafen. Mir geht die Szene mit dem Pferd Kosak nicht mehr aus dem Kopf, als mein Vater völlig durchgedreht ist. Warum? Mich beschleicht das Gefühl, dass es an mir lag, dass ich dafür verantwortlich bin.
Außer meinen Puppen, dem Fahrrad und ein paar Büchern gehört mir nichts in dieser Wohnung. Seitdem mein Brüderchen auf der Welt ist, teilen wir uns mein ehemaliges Zimmer. Das heißt, es ist jetzt sein Kinderzimmer. Ich habe dort einen Schlafplatz, aber noch nicht einmal einen eigenen Schrank. An seinem Tisch darf ich Hausaufgaben machen.
Meine Puppenkinder bringe ich jeden Abend ins Bett. Sie liegen nebeneinander auf meinem Kopfkissen. Es macht mir nichts aus, dass ich keinen Platz habe. Hauptsache, sie sind ganz nah bei mir, und ich kann sie riechen.
Seit ich wieder zurück in München bin, wird Mama von meinem Vater mit Briefen bombardiert. Oft bettelt und fleht er, meistens aber erteilt er Befehle. Er graviert seine Forderungen ins Papier: »Ich fühle eine so unendlich tiefe Liebe zu diesem Kind, dass ich fast wahnsinnig werde! Als Vater habe ich das Recht, meine Tochter zu sehen, wann immer ich will!«
Auch mich überschwemmt er mit Postkarten, fast immer sind es Gemälde oder Fotos von kleinen Mädchen, z. B. Die Infantin von Velázquez, Ballettmädchen von Renoir, Alice im Wunderland. »Sie sind wie Du!«, schreibt er. Und: »Ich vergehe vor Sehnsucht nach Dir, mein Engel!«
»Meine Liebe zu Dir ist unendlich!«
»Mein Geliebtes, Du musst sofort für immer zu mir kommen!«
»Ich erfülle Dir jeden Wunsch!«
»Ich kaufe Dir die ganze Welt!«
Als würde er eine Gebetsmühle drehen, wiederholt er immer die gleichen Worte. Für mich ist jede einzelne Karte ein Schatz. Ich lese sie immer wieder und genieße, wie er um mich wirbt. Ich habe einen Vater, der mich liebt. Eine Ahnung von Glück breitet sich in mir aus. Gleichzeitig machen mir seine Liebesbeteuerungen Angst. Ich spüre etwas Gewalttätiges in ihnen, aber ich schlucke mein Unbehagen schnell hinunter. Mama erinnert mich immer noch regelmäßig daran, dass ich Heinrich dankbar sein muss, hier mit ihnen in dieser Wohnung leben zu dürfen.
M ein Vater ist überraschend nach Rom gezogen. Er schreibt: »Mein Püppchen, Du musst unbedingt sofort zu mir kommen! Rom ist die phantastischste Stadt der Welt! Wir wohnen auf den Hügeln. Von den Fenstern aus kann man den Vatikan sehen! Komm, mein Geliebtes, komm schnell !!!!!!!!!« Zu jeder Tages-und Nachtzeit ruft er meine Mutter an, beschwört sie, wie wichtig es für mich sei, engsten Kontakt zum Vater zu haben. Mir schwärmt er von der Stadt und seiner Wohnung vor, beschreibt mir die Sonne, das Meer … Ich stelle mir vor, wie hell es dort sein wird, alles ist neu. Bestimmt kauft er mir wieder viele Kleider und andere Schätze. Ich liebe, was er für mich aussucht. Wenn ich von seinen persönlichen Dingen etwas schön finde, schenkt er es mir auf der Stelle. Er will unbedingt, dass ich zu ihm komme! Er ist mein Vater! Er liebt mich!
Auch ich sehne mich nach ihm und bettle bei Mama, mich fahren zu lassen. Kurz vor Weihnachten sagt sie endlich ja. Mein Vater schickt das Ticket. Heiligabend und die Feiertage muss ich noch in München verbringen, aber am 31. Dezember werde ich nach Rom fliegen!
Ich bin so aufgeregt, dass ich schon
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