Kindermund (German Edition)
an!«, schnarrt sie durch die offene Tür. In zwei Schritten ist sie neben mir, starrt in das Chaos im Schrank, greift in die Haufen und reißt alle Kleidungsstücke auf den Boden. »Nach dem Frühstück räumst du den Schrank neu ein! Stück für Stück! Kante auf Kante! So eine Sauerei!«
»Blöde Ziege!«, fluche ich tonlos.
»Ja, hörst du schlecht, du sollst dich anziehen!«, blökt sie. Statt zu gehorchen, ziehe ich Papier und Stift aus der Unterhose und schreibe: Mein Kleid ist weg!
»Was heißt hier weg?« Ich zucke die Schultern. Sie denkt kurz nach: »Komm mal mit!«, läuft ins Zimmer nebenan, steuert auf ein Bett zu, schlägt die Decke zurück. »Ist es das?« Ein zitterndes Mädchen liegt da, steif wie ein Stock, die Arme an den mageren Körper gepresst, sie trägt mein Kleid. Die Schwester zerrt die Arme aus dem Bett, schlägt ihr ins Gesicht, mehrmals. Ich kann das nicht ertragen, renne in mein Zimmer. »Du ziehst das sofort aus, du wirst es der Besitzerin gewaschen und gebügelt zurückgeben! Das gibt acht Wochen Stubenarrest!«, höre ich die Betschwester bellen. Die Schläge, die schneidende Stimme – ich spüre die heimliche Lust der Nonne. Das Mädchen weint leise. Ich will das Kleid nicht mehr zurück.
Es kostet mich viel Kraft, nicht zu sprechen. Nicht die Nonnen haben meinen Willen gebrochen, sondern das Leben verspricht mir, erträglicher zu werden, wenn ich das Schweigen beende. Ich schicke Hilferufe nach Rom oder an den Ort, an dem sich mein Vater gerade aufhält. Vom Münzapparat aus melde ich R-Gespräche an, er ruft immer zurück. Ich klage über die Zustände im Internat, dass ich es hier nicht mehr aushalte und abhauen oder mich umbringen werde. Mein Vater tobt. Er verspricht mir, mich rauszuholen, beschwört mich aber, bis zum Ende des Schuljahres durchzuhalten.Bald würde ich ja zu ihm kommen und dann würde er mich nicht mehr weglassen.
Heute habe ich Geburtstag, das muss gefeiert werden! Wie so oft habe ich Hausarrest. Egal, dann steigt die Party eben hier drin im Knast. Ein Freund besorgt mir eine Flasche Cinzano. Nach dem Abendessen, als die Luft rein zu sein scheint und alle Betschwestern zur Messe geeilt sind, hole ich die Flasche aus dem Versteck und verziehe mich mit Geli, einer Leidensgenossin – sie hat auch Hausarrest –, in deren Zimmer. Anfangs sitzen wir nebeneinander hinter der Tür auf dem Boden und nippen vorsichtig an ihrem Zahnputzbecher. Es schmeckt süß und ekelhaft, aber wir wollen doch meinen Geburtstag begehen. Geli packt die Flasche, prostet mir zu, trinkt einen großen Schluck – sie schüttelt sich. Ich mache es ihr nach, unterdrücke den Würgereiz. Wir drehen das Radio lauter, fangen an zu tanzen, trinken abwechselnd aus der Flasche. Das Zeug schmeckt immer besser. Wir drehen uns eng umschlungen, singen laut mit den Rolling Stones »Angie!« und saufen, bis die Flasche leer ist. Plötzlich hallt eine Stimme von weit her: »Was ist denn hier los!« Das Radio verstummt schlagartig. Verschwommen sehe ich einen Pinguin, der aufgeregt schnattert: »Sofort ins Bett!« Ich platze vor Lachen, torkle hinter dem Tier her in den Flur. Jetzt fängt es schon wieder an zu zetern. Das ist dermaßen komisch, ich kann mich nicht mehr aufrecht halten, falle der Länge nach vor dem Pinguin platt auf den Boden. »Pfui! Du bist ja vom Teufel besessen!« Der Körper bäumt sich, ein Ruck, Röcke werden gerafft, der Rosenkranz tobt am Gürtel, der Koloss setzt sich in Bewegung, die gestärkten Stoffmassen knattern wie ein Segel im Wind. Wogendes Fleisch, umflattert von schwarzen Tüchern, wälzt sich in Richtung Kapelle und zieht eine Schleppe von Kernseife und Kamillentee hinter sich her. Die Nonnenschuhe machen tock-tock. Dann weiß ich nichts mehr.
Morgengeräusche schmerzen. Was ist das für ein Gestank? Wo bin ich? Lastwagen fahren durch meinen Kopf. Meine Augen verkrustet, mein Gesicht, meine Haare verschmiert mit Schleim und Brocken. Ich klebe am Kissen fest. Es stinkt so bestialisch, wie ich es noch nie gerochen habe. Langsam tauche ich auf aus meinem Dämmerzustand: Ich schwimme in meiner Kotze!
Mir ist sterbensübel. Meine Augen bewegen sich in nervösen Zuckungen unter den Lidern. Vergeblich versuche ich sie zu öffnen. Ich lasse sie lieber zu. Das Zimmer dreht sich wie ein Karussell. »Steh auf! Wir müssen zur Schule! Es ist schon spät!« Eine Zimmernachbarin schüttelt mich an der Schulter. Mit der Kraft meiner beiden Arme richte ich mich auf, schaue
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