Kindermund (German Edition)
mich um. Das Drehen wird schneller, ich bin ein Kreisel. An den Rändern des Gesichtsfeldes trudeln Gestalten vorbei, Trugbilder. Versuche ich, sie zu fassen, ist da nichts. »Geh und dusch dich, wir müssen in zwanzig Minuten los!«
Vorsichtig, Zeh für Zeh, stelle ich die Füße auf den Boden. Die Kühle kriecht von den Sohlen hinauf zu den Schläfen, meine Augenhöhlen schmerzen. Da gibt der Boden plötzlich nach, ich krache gegen das Kopfteil, falle zurück ins Bett. Jemand zieht mich hoch, stützt mich über den Flur in den Duschraum. Ich sehe nichts als Dampf. Mir wird schwindelig, ich kann nicht stehen. Meine Helferin setzt mich direkt unter einen Brausekopf, dreht die Hähne auf. Fast bleibt mein Herz stehen, der erste Strahl ist eiskalt! Ich schreie wie am Spieß. »Halt doch den Mund! Willst du, dass alle Betschwestern zusammenlaufen?!«, zischt sie. Der Inhalt einer Shampooflasche ergießt sich auf meinen Kopf, brennt in meinen Augen. Finger kratzen energisch über meine Schädeldecke. Dann spülen sie meine Haare notdürftig aus, werfen mir ein Handtuch ins Gesicht und schieben mich zurück ins Zimmer. Dort wird mir ein heulender Fön entgegengehalten. Ich will ihn greifen, da verstummt er. Eine Krähe mitflatternden Flügeln, nein, die Oberin hat das Kabel aus der Wand gerissen, baut sich bedrohlich vor mir auf: »Du wirst mit nassen Haaren in die Schule gehen! Wenn du krank wirst, dann ist das Gottes Strafe!« Ich fange schallend an zu lachen, wie eine Verrückte, kann nicht aufhören. Als hätte sie den Teufel gesehen, rafft die Nonne ihr Gewand zusammen, Fleischmassen geraten in Schwingung, und mit zum Himmel erhobenen Armen flieht sie in die Kapelle. Ich lache immer noch.
Vor dem Fenster fallen jetzt dicke Schneeflocken. Meine Arme werden in Mantelärmel gestopft, Hände bemühen sich, mir Stiefel anzuziehen, die triefenden Haare verstecken sie unter einer Wollmütze – sie stinken immer noch! Rechts und links untergehakt, werde ich durchs Schneegestöber den Berg hinaufgezogen. Die Flocken schmelzen auf meinem Gesicht, es tut mir gut. Geli überholt mich, sie sieht ziemlich schlecht aus. Ihre gebleichten Haare hängen ihr fettig ins Gesicht wie Schnittlauch. »Da oben melden wir uns sofort krank und legen uns in die Krankenstation. Gefährliches, höchst ansteckendes Virus! Ich kann nicht mehr«, flüstert sie mir zu. Ich nicke und muss schon wieder lachen.
In der Schule schlafen wir während der Unterrichtszeit auf einer Bahre in der Krankenstation unseren Rausch aus. Der Alkoholexzess wird zum Skandal im Kloster. Jede Nonne, jeder Pfarrer, jede Putzfrau, alle wissen davon. Sie treten einen Schritt zur Seite, wenn sie mir begegnen. Bin ich vorbei, glotzen sie mir nach, zerreißen sich das Maul. »Hure!«, zischen sie oder: »Die ist vom Teufel besessen!« Nur Bernhardine schaut mich traurig an: »Musste das sein?«
Es folgen noch mehr Ausgangssperren, noch mehr Stubenarrest.
Etwa vier Wochen vor den Sommerferien halte ich es nicht mehr aus, packe wahllos ein paar Klamotten in einen Plastiksack und verlasse das Wohnheim. Bernhardine stecke ichein Briefchen ins Kräuterbeet. Ich laufe zum Bahnhof und kaufe eine Fahrkarte nach München, einfache Fahrt. Dort angekommen, klingele ich bei meiner Freundin Michaela. Sie starrt mich verdutzt an, als ich sie noch vor der Begrüßung frage, ob ich bei ihr wohnen kann. Dann erscheint Michaelas Mutter, sie hat Mitleid mit mir, nimmt mich in den Arm und führt mich in die Wohnung.
Das Leben hier ist in Ordnung, alles stimmt. Morgens, nach dem Baden, öffnet meine Freundin ihren Barockschrank. Ein Anblick wie im Märchen: Hemdchen, Höschen, Blusen, Pullover Kante auf Kante in Fächer geschichtet. Es riecht nach blütenfrischer Unterwäsche, nach weißen Kniestrümpfen, nach heiler Welt. Michaela wählt mit spitzen Fingern die Kleidung für den Tag. Ich staune mit offenem Mund, bewundere sie, denn ich schnappe mir immer nur, was mir gerade zwischen die Finger kommt, und werfe es mir über. Vor allem aber: Ein Leben in solch einer Geborgenheit und Ordnung wünsche ich mir auch.
Michaelas Mama spricht mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, bietet den beiden an, dass ich bei ihnen bleiben könne, bis ich nach Rom fahre. Anfangs sind sie empört über meine Unverfrorenheit, einfach aus dem Internat auszureißen und bei Fremden unterzukriechen. Aber welche Alternative gibt es? Schließlich räumen sie ein, dies sei »die sauberste Lösung«. Sie sind mich
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