Kindermund (German Edition)
auf die Häuser dahinter. Die Karosse kommt vor einem weißen Tor zum Stehen. Ich bin wieder angekommen in der Welt meines Vaters.
Säle, kühl, hell, edle Möbel aus dem 18. Jahrhundert, eine Barockbank, ein paar Stühle bezogen mit silbrig grüner Seide, auf der sich Paradiesvögel präsentieren. Überall kleine Tische mit Büchern darauf, aufgeschlagen hingeworfen, als wäre der Leser gerade unterbrochen worden. Von den Wänden schauen überlebensgroße Fotos meines Vaters in Goldrahmen auf mich herab. Eine Marmortafel, blutrot, meterlang, auf weißen goldverzierten Beinen. Sechs Esstischstühle darum herum, im selben Stil und mit ebenso roten Seidenpolstern. Sie sehen aus, als seien sie nur zum Anschauen da, viel zu zart und fein, als dass sie die Last eines Menschen tragen könnten. Benommen von dieser Pracht, gehe ich weiter. Ein Schrankkoffer aus weißer Tierhaut, der fast einen ganzen Raum einnimmt, steht aufgeklappt da, einige Schubladen halb herausgezogen. Kleidungsstücke achtlos darübergeworfen, als wäre gerade einer von der Reise zurückgekommen. Mein Vater zieht mich weiter, zeigt mir mein Zimmer. Es ist eingerichtet wie alle anderen Schlafzimmer: ein Bett, dessen Kopfteil schmiedeeiserne Blumengirlanden zieren. Ein Überwurf aus verschwenderisch bemessenem Damast, auf dem sich fette Putten im Überfluss des Lebens wälzen und den Betrachter locken, auch davon zu naschen. Die dazu passenden Vorhänge schleifen über den Boden. Noch ein Barockstuhl, ein Tischchen mit einer Lampe und Stapel von Manesse-Bänden, Dostojewski, Gorki, Tschechow, Poe, Dickens. An der Decke ein Lüster, sonst nichts.
Ich drehe mich um. Mein Vater durchwühlt meinen Koffer. Er nimmt jedes Stück einzeln heraus, hält es hoch, findet es hässlich und schleudert es verächtlich von sich. Obwohl dieses Ritual ein fester Bestandteil meiner Ankunft ist, bin ich jedes Mal fassungslos. Er zieht mich wie immer auf seinen Schoß, küsst mich auf Augen, Stirn, Mund und flüstert: »Mein Püppchen, ich kaufe dir die schönsten Kleider der Welt!« Ich drücke mich von ihm weg, aber er lässt michnicht los: »Mein Engelchen, ich bin verrückt geworden vor Sehnsucht nach dir! Du musst zu mir ziehen!«, raunt er. Seine Zunge bohrt sich in mein Ohr, sie ist nass. Dann sucht sie meinen Mund, und plötzlich weiß ich nicht mehr, warum ich unbedingt hierherkommen wollte.
Wie eine Katze warte ich auf den richtigen Moment, dann springe ich von seinem Schoß. Seine Arme hängen schlaff an ihm herunter, er sieht mich gekränkt an. Ich renne ins Bad, schließe zweimal ab. Plötzlich überfällt mich schreckliche Angst, meine Mutter nie mehr wiederzusehen. Die Stimme meines Vaters reißt mich aus meinen Gedanken: »Poljitschka, komm!« Mir bleibt nichts anderes übrig, ich trabe bockig in die Küche. Dort haben sich die anderen schon versammelt. Das Abendessen wird heute im Stehen zelebriert. Auf einer Anrichte liegen Papierpäckchen, ungeduldig aufgerissen, mit verschiedenen Sorten von gekochtem und rohem Schinken, Räucherlachs, feinstem Käse, dazu Trauben, Bananen und Weißbrot. Mein Vater greift geschickt nach den Schinkenscheiben, die so hauchdünn und durchsichtig sind, dass sie zerfallen, und lässt sie in seinen Mund gleiten. Die Stimmung scheint sich wieder verbessert zu haben, also angle ich mir auch einen Fleischfetzen, spanne ihn zwischen meine Finger und lache meinen Vater wie durch ein Fenster an. Das ist auch wieder falsch, ich werde ausführlich belehrt, dass man mit Lebensmitteln so nicht umzugehen hat. Mir vergeht der Appetit, der Schinken fällt zurück. Ich klage über Kopfschmerzen und verabschiede mich ins Bett. Mein Vater mault mir etwas hinterher, aber es interessiert mich nicht mehr. Lange noch liege ich wach, Bilderketten ziehen wie Sturmwolken durch meinen Kopf.
Ich komme zu mir, weil ich spüre, dass mir jemand schrecklich weh tut. Ich wälze mich zwischen den Kissen, sehe schemenhafte Umrisse. Da wird mir klar, dass es mein Vater ist, der mich quält. Das Nachthemd klebt an mir, ich habe Angst. Ich rutsche an den äußersten Rand der Matratze, dränge mich an die Eisenblumen. Sie bohren sich in mein Fleisch. Wie ein gieriges Tier kriecht er auf mich zu, kommt näher, ich höre sein Keuchen. Er sucht meinen Körper, findet einen Fuß, ein Bein. Seine Hände tasten, grapschen nach mir. Sie packen den Bund der Unterhose und entblößen mich mit einem Ruck. Ich rieche den Nikotinatem, mich ekelt, ich sträube mich, stemme
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