Kindermund (German Edition)
weist mir einen Stuhl zu, überall Mädchen, die Brot, Butter, Marmelade in sich reinstopfen und Malzkaffee trinken. Der Geruch von Kernseife und Unschuld widert mich an, aber das unbekümmerte Schnattern und Klappern versöhnt mich etwas. Ich fühle mich so fremd hier! Warum hat Mama mich hier abgeliefert, abgestellt wie ein Möbelstück, das sie nicht mehr braucht, auf den Sperrmüll geworfen. Mein Hals ist völlig zu, ich kann nichts essen. Viele Augenpaare glotzen mich an, es wird geflüstert. Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken.
Eine Klingel bestimmt das Ende der Mahlzeit. Alle Mädchen stehen auf, stapeln ihr Geschirr, traben damit zur Küche. Ich mache es ihnen nach. »Hände waschen, Betten machen, dann alle in den Festsaal zur Vorstellung der Neuen!«, verordnet die schneidende Stimme einer Betschwester. Im sogenannten Festsaal sind einige Sitzreihen aufgestellt. Ganz vorne gähnt eine Bühne, auf der sich zehn Stühle verlieren. Schon wieder Jesus am Kreuz, dieses Mal baumelt er an Seilen von der Decke. Neun Mädchen nehmen nacheinanderihre Plätze auf der Bühne ein. Sie wissen wohl schon, wie hier alles funktioniert. Ein Stuhl ist noch leer. Ich schlendere mit gespielter Lässigkeit dorthin. Die Oberin hält eine Ansprache, ich höre nicht zu. »Mein Name ist Bettina Moorbach, und ich komme aus Kempten!« Die Erste in der Reihe ist aufgesprungen, tritt hilflos von einem Fuß auf den anderen und nimmt verlegen wieder Platz. Als ich dran bin, bleibe ich sitzen, hole Papier und Stift aus meinem Ärmel, schreibe Pola Nakszynski darauf und halte den Zettel in die Höhe. Die Oberin schluckt: »Steh auf und sag uns, wie du heißt und woher du kommst!« Ich erhebe mich betont langsam, halte erneut das Papier hoch. Stille im Saal. »Zum letzten Mal: Du sagst jetzt laut und deutlich deinen Namen und deine Herkunft!«, keift die Nonne. Kein Ton kommt über meine Lippen. Der Koloss bebt, ich halte ihrem Blick stand. »Raus!«, schreit sie. Ihre Stimme überschlägt sich. »In dein Zimmer! Das wird Konsequenzen haben!« Ich schlendere Richtung Ausgang, unterdrücktes Kichern begleitet mich hinaus.
Im Zimmer bin ich allein. Ich ziehe die Bluse aus und falte sie Kante auf Kante zusammen. Dann hole ich meinen Karton unter dem Bett hervor, reiße an den Schnüren, bis sie zerspringen, und wühle meinen Kopf in Cashmere-Twinset, Schottenkilt und schwarze Schlaghosen. Gierig atme ich den Duft nach Wolle und Parfüm ein. Dann lege ich mich neben den Karton auf den Boden, streiche mit den Fingerspitzen der linken Hand über die Haut meines rechten Armes, ganz zart, von oben nach unten, dann umgekehrt. In letzter Zeit mache ich das öfter. Ich schließe die Augen und genieße das schöne Gefühl, gestreichelt zu werden.
Es klingelt zum Schulaufbruch. Erschrocken springe ich auf und beeile mich mit dem Anziehen: Ich werde heute zum ersten Mal das Twinset tragen und die Schlaghose. Rock darüber sieht lächerlich aus, aber besser als gar keine Hose. Und Schlaghose muss sein!
Die Klosterschule mit Internat liegt am anderen Ende der Stadt auf einem Hügel. Da dort im Moment kein Platz frei ist, sind alle neuen Schülerinnen hier im Heim für berufstätige Mädchen und junge Frauen untergebracht. Bis zur Schule sind es zwanzig Minuten. Wieder werde ich untergehakt und diesmal durch die Straßen Kaufbeurens geführt. Viel Interessantes kann ich nicht entdecken: spießige Häuser, spießige Geschäfte, spießige Menschen. Vielleicht werde ich die Eisdiele im Ortszentrum mal aufsuchen.
Vor dem Klostertor bleibe ich stehen, will nicht weitergehen, muss von den anderen geschubst und gezogen werden. Ein Strom von Mädchen wälzt sich durch das hohe Treppenhaus. Hier drin riecht es noch penetranter nach Kernseife und Unschuld. Als ich das Klassenzimmer betrete, weiß ich: Wir sind nicht auf der Erde, um Spaß am Leben und Lernen zu haben, sondern um zu büßen und zu leiden. An den gelblich beigen Wänden hängt kein einziges Bild, im Raum nur Stühle, Bänke, ein Lehrerpult, eine Tafel. So traurig wie hier hat Jesus am Kreuz noch nie ausgesehen. Unter ihm steht eine Lehrnonne, klein, mager, eine Gräte. Ihre Mundwinkel hängen bis zum Knie, sie trägt den Karfreitag im Gesicht. Natürlich muss ich in der ersten Reihe sitzen. Natürlich ruft sie zuerst mich auf. Ich bleibe sitzen, sage nichts. Nach mehreren vergeblichen Aufforderungen holt sie die Rektorin, eine noch fettere Qualle als die Oberin im Heim, mit noch
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