Kindermund (German Edition)
los, und ich bin sicher untergebracht.
Der Expressbote bringt ein Luftpostkuvert aus Rom, adressiert an Signorina Pola Nakszynski, c /o Familie K. Es ist sehr dick. Ich rieche dran, versuche zu ertasten, was drin ist, reiße es schließlich gierig auf: Ein Flugticket erster Klasse und 2000 Mark für mich zum Ausgeben. Für drei Wochen! Ich spüre die Sonne, kann Rom schon riechen! Als Erstes locke ich Michaela in die Stadt, kaufe ihr Schuhe, ein Kleid, Geschenke für ihre Eltern. In der Eisdiele bestellen wir unsdie größten Eisbecher und schmieden Pläne für die nächsten Wochen. Michaela muss zwar noch in die Schule gehen, aber nachmittags bereiten wir uns das Paradies. Geld genug haben wir ja. Nur ins Schwimmbad gehe ich nicht mehr gerne. Ich mag mich nicht ausziehen, denn ich fürchte, dass die Lippen meines Vaters, jede seiner Berührungen sichtbar sind auf meiner Haut.
I ch habe mich daran gewöhnt, allein durch die Welt zu fliegen, meinem Vater hinterher, und fühle mich ziemlich selbständig. Heute habe ich sogar vergessen, Angst zu haben. Kaum habe ich meinen Kakao getrunken, setzen wir auch schon zur Landung an.
Erhaben wie eine Königin schreite ich die Gangway hinunter. Die Augustsonne brennt vom Himmel, mir ist heiß, natürlich bin ich wieder viel zu warm angezogen. Mit den anderen warte ich am Gepäckband auf meinen Koffer. Dann gehe ich durch die Absperrung beim Zoll und lasse mich durch die Halle treiben. Am liebsten würde ich jetzt an der Bar einen Espresso trinken und mindestens zwei Zigaretten rauchen. Das macht man nämlich so mit fünfzehn Jahren, wenn man allein unterwegs ist.
Da entdecke ich in der Menge Babbo, Biggi und Nastja, die mir heftig winken, lachen und vor Freude kleine Tänzchen aufführen. Sie stürmen mir entgegen, umarmen und küssen mich alle gleichzeitig und erzählen mir, dass wir in eine neue Wohnung fahren.
Draußen wartet der Wagen meines Vaters, ebenfalls neu: ein schwarz funkelnder Rolls-Royce Silver Cloud, eine Limousine so hoch und breit wie ein Haus. Um hineinzugelangen, müssen wir ein Treppchen hochklettern. Der Innenraum ist mit vanillefarbenem, duftendem Leder ausgeschlagen.
Meine Schwester und ich nehmen gerade auf dem Luxussofa hinten Platz, da setzt mein Vater dieses Schiff derart ruckartig in Bewegung, dass wir mit großer Wucht in die Polster gedrückt werden. Ich genieße es, darin zu versinken, immer tiefer zu rutschen. Aber selbst als nur noch mein Kopf auf der Sitzfläche liegt, ich ein Bein auf den Boden stelle, das andere waagrecht in der Luft halte und die Fußspitze strecke wie eine Balletttänzerin, kann ich den Sesselgegenüber nicht berühren. Schnell schlüpfe ich aus Strümpfen und Schuhen und streichle mit den nackten Füßen den seidenweichen Teppichboden. Besonders aufregend finde ich die Knöpfe und Schalter in der Türverkleidung. Drücke ich kurz den einen, öffnet sich leise surrend ein Fenster, ein anderer lässt es anhalten, ein dritter schließt es wieder. Ich muss sie alle ausprobieren. Mal heben und senken sich die Sessel, mal fährt einer in Zeitlupe nach vorne, dann wieder zurück. Auch die Bar aus rötlichem Wurzelholz und blank wie ein Spiegel reagiert auf Knopfdruck. Kristallgläser erheben sich vor uns und verschwinden wieder. Ich kann nicht aufhören zu spielen. Plötzlich setzt sich behäbig die Trennscheibe zwischen Fahrer-und Fahrgastraum in Bewegung. Mein Herz hört auf zu schlagen. Mit zittrigen Fingern versuche ich dies rückgängig zu machen, kann aber den entsprechenden Schalter nicht finden. Erbarmungslos strebt die Scheibe nach oben und rastet schließlich geräuschvoll ein. Mein Vater schleudert die Mähne, funkelt bitterböse und gestikuliert in unsere Richtung. Da ich durch das Glas nichts hören kann, hat diese grimassierende Fratze etwas ungeheuer Komisches, aber mir ist nicht zum Lachen.
Meine Schwester und ich drücken uns tief in die Kissen und schmiegen uns aneinander. Draußen fliegen Häuser, Bäume, Kirchen, auch das Kolosseum vorbei. Mein Vater bremst ab, und das Schiff schaukelt durch ein Portal in einen verwunschenen Park. Uralte riesige Bäume, aufgereiht wie ein Empfangskomitee, begrüßen uns. Die Äste verschlingen sich ineinander und wachsen in den Himmel. Einige von ihnen haben es sich anders überlegt und stürzen kopfüber zurück auf die Erde. Ich bin in einem Zaubergarten: Pflanzen dicht an dicht, nur wenn der Wind sie sachte streift, geben sie für einen Wimpernschlag den Blick frei
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