Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
Vom Netzwerk:
Stimme verschwimmen, sie ist mir egal, alles ist mir egal, ich höre sie nicht mehr.
    Ich komme zu mir, weil mein Arm weh tut. Die fetten Finger der Oberin bohren sich ins Fleisch, sie zerrt mich die Treppe nach oben, weiter durch Flure mit vielen Türen. Meine Schritte spiegeln sich im Linoleum. Vor einer Tür hält sie an, stößt sie auf, schubst mich ins Zimmer und schlägt die Tür wieder zu. »In einer Stunde gibt es Abendbrot! Danach ist dein Rock verlängert! Nähzeug befindet sich in der Tischschublade!«, keift sie von draußen.
    Ich sehe mich um. Auch hier ist es düster. Ein schmaler Schlauch, jeweils zwei Betten drücken sich hintereinander an die Wand, vier Nachtkästchen, vier Holzspinde, ein Tisch in der Mitte, vier Stühle, ein Waschbecken – sonst nichts. Überall Fotos, Plüschtiere, Andenken an Familie und Freunde. Als ob das den Horror lindern könnte! Ich sinke auf einem der Betten in mich zusammen und weine hemmungslos laut. Ein Gemisch aus Tränen und Rotz läuft über Wangen und Kinn, tropft auf die Hände in meinem Schoß. Hier kann man nur sterben! Plötzlich erscheint ein Gesicht im Türspalt, rot und rund wie ein Apfel, strahlt mich an: »Wer weint denn da so laut? Du bist eine von den Neuen?« Mit dem Kopf schiebt sich ein Körper in Schwesterntracht ins Zimmer, setzt sich neben mich aufs Bett. »Ich bin Bernhardine, die Küchenschwester«, tröstet mich die warme Stimme. »Warum sitzt du hier allein im Dunkeln?«
    Mehrmals öffne ich den Mund, stoße Wortbrocken hinaus, die keinen Sinn ergeben. Anscheinend hat sie mich verstanden und Mitleid mit mir. Sie hilft mir, den Rock auszuziehen, schneidet mit einer Schere in den Saum und reißt am Faden. Dann nimmt sie das Nähzeug aus der Schublade, fädelt ein, und nach wenigen Minuten hat sie den Rock verlängert. Ich staune, wie freundlich sie zu mir ist.
    Nachdem ich mich wieder angezogen habe, erzählt sie mir von den Mädchen, die mit mir im Zimmer wohnen. Am Fenster links schläft Annika, sie sei sehr krank, habe oft Anfälle, auch nachts. Das müsse ich wissen, damit ich nicht erschrecke, wenn ich davon wach werde. Außerdem sind da noch Britta und Steffi, aber ich höre nicht mehr zu, fliege davon in meinen Träumen … »Du findest mich in der Küche oder im Klostergarten, wenn du mich brauchst.« Dann ist sie verschwunden.
    Eigentlich will ich einfach sitzen bleiben, mich nicht mehr bewegen. Da wird die Tür aufgerissen, und die Mädchen, mit denen ich in der nächsten Zeit zusammenleben muss, trampeln herein. Sie stehen breitbeinig um mich herum, beäugen mich. Eine bohrt sich mit den Fingern in den Zähnen. Sie begutachten mich von oben bis unten, meine Sachen, alles, was neu ist im Zimmer. Sie fragen, woher ich komme, wie alt ich bin, wie ich heiße und was ich ausgefressen habe, dass ich ausgerechnet hier gelandet sei. Ich hole Papier und Stift unter dem Kopfkissen hervor und schreibe nur das Nötigste. Sie wechseln halb belustigte, halb mitleidige Blicke. Eine fragt: »Bist du stumm?« Ich schüttle den Kopf. »Warum sprichst du dann nicht?« Ich gebe keine Antwort. Nach mehreren Anläufen, mehr aus mir rauszulocken, trollen sie sich beleidigt. Sie lassen sich auf ihre Betten fallen und beachten mich nicht mehr. Mir ist das nur recht.
    Trotz allem habe ich plötzlich großen Hunger. Aber es gibt nichts mehr, die Küche ist geschlossen. Mir fällt Bernhardine ein, die Küchenschwester. Sie hat gesagt: »Wenn du mich brauchst …« Ich brauche sie sehr in diesem Moment, aber ich traue mich nicht. Und bei diesen Ziegen werde ichganz bestimmt nicht um ein Stück Schokolade betteln! Irgendwann füge ich mich in mein Schicksal, rolle mich auf der Decke vollkommen angezogen zusammen und schlafe, bis ein grellgelber Blitz durch meinen Kopf fährt. Es ist die elektrische Klingel, gellend laut, mit der man hier geweckt wird. Mit einem Ruck sitze ich aufrecht auf dem Bett. Die schweißnassen Kleider kleben an mir wie eine zweite Haut. Getrocknete Rotze im Mundwinkel. Wieder schüttelt mich der Schmerz und die Sehnsucht nach meiner Mama. Viel Zeit dafür bleibt mir nicht. Aufstehen, Gesicht waschen, Haare zusammenbinden, angezogen bin ich ja schon. Der Rock reicht mir jetzt bis übers Knie, es sieht beschissen aus!
    Irgendeine hakt sich bei mir unter, schleift mich in den Speisesaal: hohe Decken, der überlebensgroße Jesus ans Kreuz genagelt. Die langen Tische sind alle besetzt. Kalt ist es hier drin, es erinnert mich an eine Kirche. Man

Weitere Kostenlose Bücher