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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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stechenderen Augen. Sie droht und droht und droht mit immer noch Schlimmerem. Ich presse die Lippen aufeinander, lehne mich zurück. Das macht sie rasend. Sie stürzt auf mich zu: »Du wirst jetzt sofort nach Hause gehen ins Heim, dich bei der Frau Oberin melden und ihr mitteilen, dass du eine Woche Stubenarrest hast! Und dann kannst du dir überlegen, ob du in Zukunft den Mund aufmachst.« Ihr Krötengesicht kommt gefährlich nah an mich heran, ich rieche ihren schlechten Atem. »Glaub mir, Fräuleinchen, dich werden wir knacken!« Dann packt sie mich am Arm undwirft mich aus der Klasse. Meine Schultasche rutscht mir auf dem Linoleumboden hinterher.
    Auf dem Weg zurück lasse ich mir Zeit. Ich studiere die Schaufenster der spießigsten Geschäfte, schaue jedem Hund und jedem Kinderwagen nach, und in der Eisdiele Stromboli bestelle ich den größten Eisbecher auf der Karte. Was habe ich denn zu verlieren? Ich muss die Zeit, die mir noch in Freiheit bleibt, genießen!
    Als ich im Heim ankomme, sind schon alle telefonisch informiert. Standpauke, Stubenarrest, Strafarbeiten. Bernhardine ist wie die zwölfte Fee bei Dornröschen. Sie mildert jede Sanktion, die über mich verhängt wird mit ihrer Güte, tröstet mich, wenn ich weine, lässt mich während meines Stubenarrests doch raus, damit ich meinen Vater anrufen kann. Das ist die offizielle Version, aber sie weiß, dass ich die Zeit nutze, um in die Stadt zu laufen. Diese wird zum Angelpunkt all meiner Gedanken, Träume, Sehnsüchte. Bernhardine ist meine Komplizin. Meist ist die Haustür angelehnt, damit ich unbemerkt hineinschleichen kann, wenn ich abgehauen bin oder zu spät nach Hause komme. Sie hat auch die Aufsicht über die Studierzeit am Nachmittag, verrät mich aber nie, wenn ich nach der Pause nicht mehr erscheine und stattdessen herumstreune. Mein Lieblingsort ist die Eisdiele Stromboli. Dort lerne ich auch die Typen kennen, mit denen ich knutschend in Hauseingängen oder Treppenhäusern von Hausfrauen und anderen frommen Bürgern der Stadt erwischt und an die Oberin verpetzt werde. Die bestraft mich wieder mit Stubenarrest …
    Bernhardine ist der einzige Mensch im Internat, mit dem ich spreche. Allen anderen gebe ich nur knappe Antworten oder sage gar nichts. Selbst mit den Kerlen, die ich heimlich treffe, wechsle ich kaum ein Wort. Sie begehren meinen Körper, ich fordere dafür Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Wenn einer mich anfasst, fühle ich mich am Leben. Ich werde geliebt. Wir küssen, wir streicheln uns, ich reizeihn immer mehr, wir steigern uns von Treffen zu Treffen, und wenn er sich vor Lust nicht mehr halten kann, bin ich verschwunden. Dann überkommt mich eine unbeschreiblich tiefe Traurigkeit, ich fühle mich benutzt, bin eine leere Plastiktüte. Anfangs flehe ich Mama noch an, mich bitte, bitte, bitte wieder abzuholen, ich sei so unglücklich, so verzweifelt hier! »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, ist ihre Antwort. Meine Briefe werden weniger. Das Bild meiner Mutter wird unschärfer, verblasst. Bald denke ich kaum noch an sie.
    Wenn es mich zu Bernhardine zieht, warte ich an der Küchentür, bis sie mit ihrer Arbeit fertig ist, oder suche sie im Klostergarten. Meist finde ich sie dort kopfüber in einem Beet graben. Ich betrachte sie so gerne, mit welcher Hingabe sie jede einzelne Blume pflegt. Wenn sie mich bemerkt, strahlt mich ihr Sonnengesicht breit an, und sie winkt mich zu der Bank an der hohen Gartenmauer. Dort sitzen wir über ihren Korb gebeugt, ich eng an Bernhardine geschmiegt, und sie erklärt mir jedes Kraut und seine Bestimmung, führt mich ein in die Welt der Heil-und Giftpflanzen. Mich fasziniert der schmale Grat zwischen Heilung und Vergiftung. Eine Spur zu viel, und die Wirkung führt zum Tod. Ich erschrecke über mich selbst.
    Das Leben im Kloster ist eintönig und lähmend: aufstehen, waschen, beten in der Kapelle, Frühstück, Betten machen, Schule, Mittag essen, Zimmer aufräumen, Hausaufgaben, Abend essen, beten, ins Bett. Und jeden Montag nach dem Abendessen Silentium, das heißt bis 22 Uhr Sprechverbot. Das fällt mir ja nicht schwer! Bis jetzt halte ich mein Schweigen durch.
    Eines Morgens stehe ich kurz vor dem Frühstück immer noch in Unterwäsche vor meinem Schrank und wühle in meinen Klamotten. Ich kann mein Lieblingskleid nicht finden. Eine Betschwester raschelt heran, der Rosenkranzan ihrem Gürtel schwingt hin und her, der Schlüsselbund rasselt. »Ei, was ist denn das! Hopp, hopp, zieh dich

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