Kindermund (German Edition)
springt auf und kippt sofort auf die Matratze, schläft dort weiter. Ich klopfe auf ihre Wangen, um sie zu wecken. Als das ohne Wirkung bleibt, ziehe ich sie vom Bett und schleife sie hinter mir her den Stimmen entgegen. Mein Vater empfängt uns, Biggi fest im Arm, neckt sie, albert mit ihr, als seien sie frisch verliebt. Er wirbelt seine Frau durch den Raum und ruft: »Wir fahren jetzt ans Meer, wir fahren jetzt ans Meer und in die Stadt!« Sie lässt es sich gefallen, anscheinend ist sie seinem Werben erlegen. Was in ihr vorgeht, ist nicht zu erkennen. Die gute Stimmung wirkt aufgesetzt und verkrampft. Mir ist unwohl, aber ich versuche mich anzupassen.
Wir beeilen uns alle, aus der Wohnung zu kommen. Im Auto auf der Fahrt nach Fregene macht mein Vater ständig Witze, um die Stimmung weiter aufzulockern. Nach und nach lassen wir uns anstecken von seiner guten Laune und singen sogar Lieder.
Am Strand laufen wir sofort zum Wasser und spritzen uns nass, bis wir uns am Ende vor Lachen nicht mehr auf den Beinen halten können. Übereinander fallen wir in den Sand. Er ist heiß und weich wie Seide. Ich muss mich hineinwühlen, immer tiefer graben, bis die Finger kalt und nass werden. In der Ferne höre ich Kinder. Sie hüpfen im Wasser herum, springen hoch, tauchen unter, quietschen vor Lust. Sehnsüchtig schaue ich ihnen zu. Gerne würde ich mit ihnen im Wasser herumtollen. Aber da erhebt sich mein Vater auch schon, schüttelt den Sand aus seinen Haaren, befiehlt uns aufzustehen. Er hat Hunger und will jetzt hier in einem Strandrestaurant zu Mittag essen. Dann nimmt er sich uns einzeln vor, klopft, streift, schüttelt, zupft so lange, bis er das letzte Staubkorn entfernt hat. Wir stapfen durch den weichen Sand zum Restaurant, eigentlich hüpfen wir, weil derSand unsere Fußsohlen verbrennt. Dem lockenden kühlen Wasser kehren wir den Rücken zu.
Wir bekommen einen Tisch auf der Terrasse – wenigstens kann ich von hier aus die Kinder weiter beobachten. Vor mir ein Suppenteller mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit, in der sich eine Scheibe Weißbrot breitmacht. Obendrauf ein Haufen weißer Bröckchen: »Gerösteter Knoblauch auf Weißbrot in Olivenöl!«, sagt mein Vater. Er bemerkt meinen suchenden Blick nach Besteck und belehrt mich, dass man das Brot mit den Fingern nimmt und einfach abbeißt: »So!« Das halbe Brot verschwindet in seinem Rachen. Öl läuft ihm aus den Mundwinkeln, ich schaue zur Seite. Das sieht unbeholfen und komisch aus, aber ich möchte ihn nicht reizen. Außerdem habe ich Hunger. Ich mache es genauso wie er. Das Öl tropft auf den Tisch und auf mein Kleid. Als ich hineinbeiße, spritzt es mir ins Gesicht. Gott sei Dank hat Babbo nichts gesehen, denn er ist damit beschäftigt, Biggi das Fett aus den Mundwinkeln zu lecken und zu schlecken, ihre Lippen einzusaugen. Mir ist peinlich, wie er sich in der Öffentlichkeit aufführt. Ich richte den Blick stur auf meinen Teller. Nach der Fettorgie werden gebratene Fischchen und Salat aufgetischt. Der Eisturm zum Abschluss tröstet mich ein wenig über den Verzicht auf das Baden hinweg.
Die Mittagssonne brennt gnadenlos vom Himmel. Meine Haare kleben am Gesicht. Ich klebe an meinem Kleid. Mein Rücken juckt höllisch, ich reibe mich an der Stuhllehne, es wird nur schlimmer. Als Babbo wieder mit Küssen abgelenkt ist, schnappe ich meine Gabel, stecke sie von oben in mein Kleid und schabe, bis es weh tut.
Auch auf der Fahrt zurück scheint mein Vater gut gelaunt zu sein. Er lacht viel mit Biggi, streichelt ihr Bein, küsst sie auf den Hals. Sie kichert, windet sich kokett. Der Rolls-Royce schaukelt den Hügel zu unserem Zuhause hinauf. Wir singen, pfeifen, sind entspannt. »Was ist das denn?«, ruft mein Vater. Vor uns auf der Straße ein Betrunkener aufeinem Fahrrad. Festgezurrt auf dem Gepäckträger ein Turm aus Kleidern und Büchern. Das Fahrrad schwankt. Ich erkenne, es ist kein Betrunkener, sondern Nikolai! Er ist auf der Flucht. In seiner Not hat er seine wenigen Habseligkeiten zusammengesucht und entflieht nun der Hölle. Mein Vater drückt auf die Hupe, das Männchen zuckt zusammen, Rad und Fahrer schwanken gefährlich, drohen zu stürzen. Doch Nikolai fängt sich wieder und tritt energisch in die Pedale. Ich glaube, mein Vater hat den Ernst der Lage nicht erkannt, sonst hätte er den Diener nicht gehen lassen. Wir haben ihn nie wiedergesehen.
N ach den Sommerferien schreibt mich meine Mutter im Internat Neubeuern ein, mein Vater kommt für die
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