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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Kosten auf. Es ist eine Schule für Jungen und Mädchen, und ich fühle mich ziemlich wohl dort. Reiche und Adlige aus der ganzen Welt bringen ihre Kinder in diesem Schloss auf einem Berg im Inntal unter. Aus Prestigegründen oder weil sie keine Lust auf ihre verwöhnten Blagen haben. Geld spielt dabei keine Rolle. Ihre Kinder genießen die beste Erziehung und Förderung: Sprachen, Musik, alle möglichen Sportarten, Kunstunterricht.
    Gelernt wird dennoch nicht viel. Vor großen Arbeiten borgen sich immer dieselben Jungen Seidenstrümpfe von uns Mädchen. Nachts brechen sie verkleidet ins Lehrerhaus ein und stehlen aus dem Schularbeitenschrank die Aufgabenblätter für den nächsten Tag. Dann muss ein Streber die Aufgaben lösen, und wir schreiben eine Eins oder Zwei. Zur Belohnung wird der Streber eine Zeitlang weniger gemobbt.
    Rauchen und nach dem Abendessen das Haus verlassen ist natürlich strengstens verboten. Trotzdem finden mich die Lehrer jeden Abend mit den jungen Burschen aus der Oberstufe im Schlosspark. Sie gefallen mir viel besser als die Jungs aus meiner Klasse, die sich so willig ausnützen lassen. Wie zum Beispiel Gerrit, ein externer Schüler aus der Umgebung. Für die Pause hat er immer Brötchen mit Schinken dabei. Sie schmecken köstlich. Ich stehle sie ihm jeden Morgen aus seiner Schultasche. Da er in mich verknallt ist, kann ich mir das erlauben. Zwar tut er so, als sei er wütend, und biegt meinen Arm auf den Rücken, aber eigentlich will er nur einen Kuss. Den bekommt er aber nicht.
    Ich dusche nie mit den anderen Mädchen, weil ich mich wegen meiner Nacktheit schäme. Ich bin mir sicher, dass jeder Finger, jeder Kuss meines Vaters auf meiner Haut sichtbar ist. Eingebrannt für alle Zeiten. Erst wenn alle schlafen und im Schloss kein Geräusch mehr zu hören ist, wage ich mich in die Waschräume, suche mir die am besten funktionierende Dusche aus und setze mich auf die Fliesen darunter. Der Strahl umarmt mich, ich fühle mich geborgen. Außerdem bin ich mir sicher, dass das heiße Wasser etwas von der Sünde wegwäscht.

D ie Passagiere müssen sich zur Landung anschnallen. Dieses Mal wird es anders sein in Rom. Meine Schwester und Biggi sind nicht mehr da. Meine Stiefmutter hat sich von meinem Vater getrennt und ist mit Nastja nach Berlin gezogen. Ich werde zum ersten Mal mit ihm allein in dem großen Haus in der Via Appia Antica wohnen, das er in der Zwischenzeit gemietet hat. Eine ehemalige Kirche aus dem 15. Jahrhundert, die Grundmauern stammen angeblich aus der Römerzeit. Das Flugzeug setzt zur Landung an, ich werde steif, bohre meine Finger in die Polster aus Angst, die Maschine würde wieder durchstarten. Am Ende jedes Fluges packt mich diese Panik.
    Heute werde ich ein Taxi nehmen, mein Vater hat keine Zeit, mich abzuholen. Zuvor bestelle ich einen Espresso in der Ankunftshalle und zünde mir eine Zigarette an – mit dem kostbaren Bulgari-Feuerzeug aus Gold, überzogen mit nachtblauem Lack. Es habe ein Vermögen gekostet, sagt mein Vater. Neben mir, achtlos auf den Boden geworfen, knautscht meine Reisetasche aus Ziegenleder, die Handtasche ist von Gucci.
    Ein lähmendes Gefühl macht sich breit. Jede Bewegung kostet mich ungeheure Anstrengung. Was erwartet mich? Meine Finger fühlen sich taub an, ich bewege sie, muss sicher sein, dass sie noch funktionieren. Wie wird er gelaunt sein? Was werden wir machen? Kleider, Schuhe, Taschen kaufen – Essen gehen? Die Fahrt mit dem Taxi ist endlos. Forum Romanum und Kolosseum liegen schon hinter uns, und jetzt fahren wir nur noch an Zypressen und Pinien vorbei. Ich zähle sie, bin schon bei dreihundertundzwei. Die Uhr klickt unentwegt, der Fahrer ist entzückt über die lohnende Fahrt und wird immer gesprächiger. Er erzählt mir, dass diese holprige Straße, die Via Appia Antica, bis nachNeapel führt. Vielleicht ist er ja schon vorbeigefahren am Anwesen, und er bringt mich nach Neapel. Diese Idee gefällt mir gut. Vor allem weil der Fahrer hübsch ist, vielleicht fünf Jahre älter ist als ich und schamlos mit mir flirtet. Wenn das mein Vater wüsste! Er würde den Taxifahrer verprügeln und mich an den Haaren ins Haus schleifen. Ich sehe mich zur Sicherheit im Taxi um, aber da ist niemand.
    Der Wagen wird langsamer, biegt von der Straße ab, hält vor einem eisernen Tor, das sich mehrere Meter hoch zwischen uralten Mauern behauptet, dahinter Zypressen. Ruhig und erhaben stehen sie da, werden nur vom Kirchturm überragt: eckig, aus

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