Kindermund (German Edition)
ich geträumt, mir nur eingebildet, dass Nikolai den Kopf durch die Tür gesteckt hat? Vielleicht wollte er meine Schwester wecken, wie er es jeden Morgen mit uns Kindern macht. Und jetzt glaubt er vielleicht, langsam verrückt zu werdenin diesem Haus – die Stiefmutter im Kinderbett und ich zu ihren Füßen kauernd.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich friere fürchterlich, will aber nicht zu Biggi unter die Decke kriechen. Nach draußen zu gehen, traue ich mich auch nicht. Wer weiß, was mein Vater mit mir macht, wenn er mich sieht. Ich muss Biggi wecken. Ganz zart berühre ich ihr Bein. Sie stöhnt, es klingt schmerzvoll. »Wie spät ist es?«, fragt sie in den Raum.
»Ich weiß es nicht!« Plötzlich springt sie aus dem Bett, sieht mich verstört an und sagt: »Ich muss hier weg!« Dann macht sie zwei Schritte vor, zwei zurück, als wäre sie in einen Käfig gesperrt. Ihr Verhalten macht mir Angst. Ich versuche in ruhigem Ton mit ihr zu reden, wo Papa wohl sei, was er macht, wie der Tag heute weitergeht … Aber sie antwortet mir nicht, sondern wiederholt immer den einen Satz: »Ich muss weg!« Mich beschleicht das Gefühl, dass auch sie verrückt geworden ist.
Mein Vater steht in der Tür: »Kommt, wir fahren in die Stadt und kaufen uns lauter schöne Dinge!« Vor Schreck schwindet alle Kraft aus meinem Körper. Ich muss mich aufs Bett setzen. Meine Stiefmutter lässt ihn stehen und geht wortlos an ihm vorbei aus dem Zimmer. Er setzt sich neben mich, streicht mir über die Haare, als wäre nichts gewesen: »Ich flehe dich an, mein Püppchen, bring sie dazu, dass sie mir verzeiht. Sie hat so unbeschreiblich viel Schreckliches mit mir durchgemacht, bitte, flehe sie an zu bleiben, auf Knien! Beschwöre sie! Du musst es schaffen! Ich kaufe dir, was du willst!«
Es ist mir unangenehm, bei meiner Stiefmutter für ihn zu betteln, aber in diesem Moment bin ich so unendlich erleichtert und dankbar für seine gute Stimmung, dass ich alles für ihn tun würde. Gleichzeitig fühle ich mich hilflos, weiß nicht, wie ich es schaffen soll, sie umzustimmen. Ich finde meine Stiefmutter in ihrem Schlafzimmer vor dem Schrank. Sie reißt wahllos Kleidungsstücke von den Bügeln und stopftalles in Koffer und Reisetaschen, die auf dem Bett bereitliegen. Sie ist so außer sich, dass sie mich nicht kommen hört. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll, drücke mich verlegen die Wand entlang, bis ich hinter ihr stehe. »Biggi!«, sage ich leise. Sie fährt herum und funkelt mich an. Ich reiße mich zusammen: »Biggi, bitte bleib bei Papa! Er bringt sich sonst um! Er kann ohne dich nicht leben! Du bist sein Leben! Bitte verlass ihn nicht! Es tut ihm alles so leid! Bitte, bitte, bleib hier! Bitte!« Ich lass mich auf die Knie fallen, wie mein Vater es befohlen hat. Zuerst starrt sie mich an, ihr Blick wird hart, sie kneift ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Dann schreit sie: »Fängt deine Tochter jetzt auch noch an, mich zu belästigen!« Das hätte sie nicht sagen sollen. Mein Vater schießt herein und brüllt noch viel lauter, so laut, dass meine Ohren taub werden und ich nach draußen taumle.
Nastassja kommt mir weinend entgegen. Wir schluchzen jetzt beide, stolpern durch die Räume bis in den Küchentrakt zu Nikolai. Der sitzt in seinem Zimmer auf dem Bett und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Als er uns bemerkt, sieht er kurz auf, öffnet beide Arme. Nastassja und ich stürzen ihm entgegen. Obwohl Nikolai klein und zierlich ist, fühlt er sich an wie ein starker Baum. Er drückt uns fest an sich, und als das Gebrülle, die erstickten Schreie, das Wimmern immer unerträglicher werden, presst er seine Hände auf unsere Ohren.
Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange wir so verharren, weiß ich nicht. Unter Nikolais Hand hervor läuft Schweiß über meine Wange, sehr langsam, es juckt, aber ich will mich auf keinen Fall rühren. Irgendwann lockert sich die Hand auf meinem Ohr, ganz langsam, sie klebt ein bisschen fest, dann löst sie sich. Mein Ohr ist heiß und zusammengedrückt. Jetzt kann ich mich endlich kratzen. Ich horche angestrengt, Stille, kein Laut. Das ist mir nicht geheuer. Ich schaue zu Nikolai, der schaut zurück. Ich sehe zu meiner kleinen Schwester, sie schläft in seinem Arm. VonFerne ist Kichern, Glucksen, Lachen zu hören. Wieder sehe ich zu Nikolai, der zuckt ratlos mit den Schultern. Mein Vater flötet unsere Namen durch die Hallen. Nikolai erschrickt, er schüttelt meine Schwester. Sie
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