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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Naturstein, obendrauf Zinnen. Drei Fenster übereinander, also drei Stockwerke. Aber ich sehe keine Glocke. Das Tor öffnet sich automatisch, leise surrend. Mein Vater lässt sich nicht blicken. Ich zahle, werfe die langen Haare zurück, die Reisetasche über die Schulter und stapfe über den Kies. Eisen schlägt auf Eisen, das Geräusch reißt mich herum – das Tor hat sich automatisch geschlossen. Rechts von mir ein Gartenhaus. Rosen wuchern, wohin ich schaue. Ich mache ein paar unsichere Schritte auf die Kirche zu, von meinem Vater immer noch keine Spur. Vielleicht ist es das falsche Haus, oder er hat vergessen, dass ich komme.
    Jetzt stehe ich direkt davor: Kirche oder Schloss, was ist es eigentlich? Äste reichen bis an die rissigen Mauern heran – einladend sieht das nicht aus. Ich komme mir klein und mickrig vor hier, und weit und breit kein Vater. Es wäre mir lieber, wenn er da wäre.
    »Buon giorno, Signorina!« Eine Frau, winzig, spindelförmig, watschelt auf mich zu. Sie ist von Kopf bis Fuß schwarz angezogen. Eine Angestellte, nehme ich an. Sie nimmt mir die Tasche aus der Hand, ich trete vor ihr in die Eingangshalle. Große buckelige Fliesen, unverputzte Wände. Angenehm kühl ist es hier drin. Von hier aus kann ich in andere Hallen sehen, alle leer mit Fenstern bis zum Boden, und in die Schlossküche. Ich erkenne das Kopfende der Marmortafel aus der Via Cassia Antica. Selbst sie wirkt hier drin klein und zierlich. Die Ausmaße erschlagen mich. Die Frau in Schwarz erklärt mir, dass mein Vater aufgehalten wurde und wohl erst später komme. Sie möchte mir jetzt etwas zu essen servieren und dann müsse sie nach Hause zu ihrer Familie. Auf keinen Fall will ich allein hierbleiben. Angst steigt in mir hoch. »Später schaut der Nachtwächter vorbei«, versucht sie mich zu beruhigen.
    »Kommen Sie, Signorina! Ich zeige Ihnen das Haus!« Um nach oben zu gelangen, muss man entweder den Fahrstuhl benutzen oder außen eine Treppe hochsteigen, die aussieht, als hätte man sie mit Uhu an die Wand geklebt – schmal und ohne Geländer. Ich entscheide mich für die Treppe, vor Fahrstühlen fürchte ich mich noch immer. Kaum schließt sich die Tür, bekomme ich keine Luft, schwitze, überfällt mich Panik, nicht mehr rauszukommen. In einem Hotel bin ich einmal zu meinem Vater bis in den 12. Stock hochgestapft.
    Die Frau läuft vor mir her. Sie ist ziemlich schnell auf ihren kurzen, dünnen Beinen. Bestimmt will sie zu ihren Kindern. Am Ende der Treppe führt eine Holztür in einen schmalen Flur. Er ist mit elfenbeinfarbenem Teppichboden ausgelegt, an den Wänden Einbauschränke im gleichen Ton. Der bekannte Geruch nach Leder, Stoffen, Parfüm, Luxus. Von hier aus geht es wieder ein paar Stufen hoch. Eine Tür wird aufgestoßen, sie knarzt, ich muss mich bücken, so niedrig ist der Rahmen. Ich trete hinaus auf eine Art Galerie und vergesse beinahe zu atmen: Unter mir erstreckt sich das Kirchenschiff. Die spitz zulaufenden Fenster an beiden Seiten lassen die Strahlen der Abendsonne herein. Sie treffen sich in der Mitte. An der Stirnseite ein Kamin, so groß, dass ich darin herumspazieren könnte. Endlos lange Barockbänke, wieder mit meergrünem und nachtblauem Damast bezogen. Nerzdecken knüllen auf den Sofas, als wäre gerade ein Körper rausgeschlüpft. Ich steige die Stufen hinunter, lasse mich auf eine der Liegen fallen. Eine Allee von Kandelabern säumt denWeg zum Kamin. Einmal hat mein Vater zu mir gesagt, er fühle sich als Zar. Deshalb habe er uns auch russische Namen gegeben, deshalb müsse er sich mit allem Luxus der Welt umgeben. Er lebt ja auch wie ein Kaiser: in Seide gekleidet in einem Schloss mit Barockmöbeln, Gläsern, in denen selbst Wasser wie Rotwein aussieht, goldenen Tellern. Mit Drachen und Fischen, die Wasser speien, Dienern, Luxuskarossen.
    Die mächtigen Bodenplatten aus Stein eignen sich hervorragend für Hüpfspiele: eins, zwei, drei … ich hopse durch die Halle bis ganz nach vorne. Eigentlich mache ich so etwas nicht mehr, aber diese Platten laden dazu ein. Ich hüpfe zurück, ich mache es noch mal und noch mal, ich muss es tun, kann nicht aufhören.
    Dann steht die Frau in Schwarz plötzlich vor mir, bittet mich, ihr weiter zu folgen. Gerne lasse ich mich von ihr führen, so kann ich mir in Ruhe alles ansehen. Mit meinem Vater wäre so etwas niemals möglich. Neben dem Fahrstuhl führen Steinstufen in den Turm hoch. Das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafsalon, einem Badesalon

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