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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Raum. Die Entenfamilie folgt gehorsam. Wir müssen nur dem Jammern und Stöhnen nachhorchen, dann finden wir den Armen im Bad. Er beklagt lautstark seine Verletzung, reckt den Kopf so nah an den Spiegel, als sei er blind. Nur wenn man sich sehr anstrengt, kann man einen winzigen, kaum erkennbaren Riss auf der Stirn erahnen. Hört man ihm zu, denkt man, das Gesicht würde aufklaffen. Biggi schaut mich an, ich schaue zurück, und wir müssen beide kichern. Wir drehen uns weg. Es geschieht ihm ganz recht, das ist die Strafe! Er wollte den armen Aljosha, unseren Schäferhund, verprügeln. Jetzt fängt mein Vater an zu heulen über die riesige Wunde, und dass er sich unmöglich so vor der Kamera zeigen kann! Eine Katastrophe! Seine Karriere sei vorbei! Lächerlich. Ich nutze die Gelegenheit, mich davonzustehlen. In meinem Zimmer mache ich kein Licht, streife alle Kleider auf einmal ab. Hemd und Unterhose lasse ich an und krieche unter die Decke. Ob er mich heute in Ruhe lässt? Wahrscheinlich ist er zu sehr mit seiner Verletzung beschäftigt, muss desinfizieren, kalte Kompressen auflegen, sich bemitleiden. Da hat er kein Interesse an mir. Durchs Schlüsselloch fällt Licht herein. Wenn jemand vorbeigeht, wird es für einen Moment schwarz. Ich fixiere die kleine Öffnung, als ob ich durch sie erkennen könnte, was er vorhat.
    Ich wache auf, die Tür meines Zimmers wird geschlossen. Kaum hörbar, es knackt. Ein Gesicht verschwimmt im Dunkeln.
    Wir vier sitzen an der Tafel und warten, dass Nikolai die Speisen serviert. Mein Kreuz ist durchgebogen, Messer undGabel liegen locker in meinen Händen. Die Serviette meiner Schwester sitzt richtig. Biggi trägt ein Dauerlächeln. Schweigen. Die Anspannung treibt mir Schweißtropfen auf die Stirn.
    Der Diener tänzelt herein, aufrecht, stolz. Auf seinen Armen Teller mit von ihm zubereiteten Speisen. Er stellt sie elegant vor uns ab, tritt einen Schritt zurück. Auf jedem Teller thront in der Mitte ein Stück Fleisch, umrahmt von duftender Sauce, dazu bunter Salat. Den Tellerrand hat Nikolai mit Blüten geschmückt, ich finde, alles sieht wunderschön aus, und ich bekomme sogar Lust, davon zu essen.
    Mein Vater schneidet ein Stück vom Fleisch und führt die Gabel zum Mund. Er kaut. Wir starren auf seinen Mund. Nikolai beobachtet ihn erwartungsvoll. Schweigen – die Luft knistert.
    Plötzlich knallt mein Vater angewidert das Besteck auf den Teller: »Diese Scheiße kann ja keiner fressen!« Der Diener zuckt zusammen, fällt auf die Knie, rutscht unter den Tisch und fängt an, die Füße seines Herrn zu küssen. Mein Vater ekelt sich. Er gibt spitze Töne von sich wie eine hysterische Jungfer, die eine Maus entdeckt hat. Er zappelt mit den Beinen, zieht sie hoch auf seinen Stuhl: »Iiiihhhhhh!« Nikolai kommt unter dem Tisch hervor, schleicht aus dem Zimmer. Ich schaue ihm nach, er tut mir so leid. Die Speisen auf den Tellern sehen alt und welk aus. Mein Vater steht auf, verlässt schnaubend das Zimmer. Biggi, Nastja und ich stellen die Teller zusammen.
    Die Tage in Rom ziehen sich träge und zäh: lesen, abkühlen im Pool, »Kleidchen« und »Schühchen« kaufen, Essen gehen, neue Autos bewundern, die uns zur Ansicht nach Hause gebracht werden, zelebrierte Mahlzeiten samt Diener, ab 20 Uhr auf einem Bett vor dem Fernseher liegen und über alle Männer lästern und ab 22 Uhr meinem Vater beim Schnarchen zuhören.

S eit Tagen und Nächten streitet mein Vater mit Biggi. Man kümmert sich nicht um uns. Es finden auch keine Mahlzeiten mehr statt. Nur Nikolai versorgt uns mit dem Nötigsten. Wir drücken uns an den Wänden entlang wie Schattenwesen, immer die Angst im Nacken, dem Zorn meines Vaters zum Opfer zu fallen. Meist kauern wir in einer Ecke und hoffen, dass das dumpfe Poltern, das Pöbeln, Schreien und erstickte Wimmern endlich zu Ende sein mögen. Spät in der Nacht, wenn unsere Köpfe vor Müdigkeit nach vorn fallen, ergreift eine die Initiative und schleift die andere mit ins Bett.
    Leider habe ich nach Jahren immer noch nicht herausgefunden, wie ich mich in solchen Situationen richtig verhalte. Betreten Nastja und ich das jeweilige Streitzimmer, um gute Nacht zu sagen, brüllt mein Vater, wir sollen verschwinden. Wagen wir es das nächste Mal, grußlos schlafen zu gehen, reißt er mitten in der Nacht die Tür auf, schaltet das Licht an und schreit: »Grüßt ihr Kretins mich nicht mehr?!«
    Dieses Mal weckt mich meine Stiefmutter mitten in der Nacht. Sie schluchzt: »Ich kann

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