Kindermund (German Edition)
und einem Ankleidezimmer. Hier residiert natürlich er, im größten aller Räume. Vollkommen mit blauer Seide ausgeschlagen und ziemlich dunkel. Wahrscheinlich werden die Vorhänge nie aufgezogen. Dort hineinzusehen macht mir ein unangenehmes Gefühl, ich gehe schnell weiter. Jedes Stockwerk gleicht dem anderen, nur die Farben und die Größe der Zimmer variieren. »Sie können sich nun allein zurechtfinden, Signorina, ich muss gehen. Die Tafel in der Küche ist gedeckt. Die Speisen finden Sie im Kühlschrank!«, ruft sie mir zu und wetzt die Treppe hinunter.
Jetzt stehe ich hier in diesem Kirchturm, vollkommen allein. Ob es noch Dinge gibt, die an meine Schwester und Biggi erinnern? Oder haben sie alles mitgenommen? Mich wundert, dass die überlebensgroßen Schwarzweißfotos von uns vieren nirgends zu sehen sind. Überhaupt sind alle Wände kahl, abgesehen von einem mächtigen Gemälde im Goldrahmen, das im Kirchenschiff hängt. Darauf wimmelt es von nackten Frauen, die in Haufen übereinanderliegen oder gemeinsam baden. Ich mag es mir nicht anschauen.
Es ist totenstill, nicht mal Vögel sind zu hören. Langsam lässt das Licht im Innern des Hauses nach. Ich muss raus hier, laufe die Turmtreppe hinunter, werfe einen Blick in die Küche und nehme im Vorbeigehen einen Apfel aus der Obstschale. Man hat vergessen, die Doppeltür zum Park zuzumachen. Hoffentlich ist niemand eingestiegen. Die Küchenlampe sprüht kaltes Licht auf eine Steintreppe, die in den Garten führt. Ich setze mich auf die Stufen – sie sind noch warm von der Sonne. Am Ende der Treppe kann ich weißen Kies und die Umrisse von Büschen erkennen, der Rest liegt im Dunkeln. Schritte knirschen. Jemand nähert sich der Treppe. Endlich kommt mein Vater! Erleichtert springe ich die Stufen hinunter, ihm entgegen. Eine Gestalt löst sich aus dem Schwarz, tritt ins Licht. Es ist nicht mein Vater. Ein Fremder! »Keine Angst, Signorina, ich bin der Nachtwächter«, sagt eine Stimme. Ich schaue in das freundliche Gesicht eines Mannes. Er trägt eine Uniform und eine Schirmmütze. Das Blut kehrt zurück in meinen Kopf, ich kann wieder denken. Ich frage ihn, ob ich ihm einen Stuhl bringen soll. Er grinst breit, seine Zähne blitzen auf, »Nein danke!«, dann setzt er sich mit etwas Abstand zwei Stufen unter mir auf die Treppe. »Oder etwas zu essen oder zu trinken?« Ich stürze in die Küche auf der Suche nach etwas, das ihn erfreuen könnte. Auf keinen Fall darf er jetzt gehen. Er muss mir Gesellschaft leisten, bis mein Vater kommt! Womit kann ich ihn festhalten? Mit dem Inhalt des Kühlschranks könnte auch ein Partybuffet ausgerichtet werden: Hummer, Langusten, Kaviar, kleine Päckchen mit Rinderfilet, mit Wild … »Ein Bier wäre schön!«, ruft der Mann. Sofort greife ich nach zwei gekühlten Flaschen Heineken und finde nach einigem Wühlen in den Schubladen endlich einen Öffner. Vor Aufregung stolpere ich beinahe über meine Füße, kann michgerade noch fangen und hocke mich neben ihn. Ich will cool wirken, schnippe professionell den Kronkorken ab, schiebe eine Flasche in seine Richtung, proste ihm zu. Mein Bier trinke ich in einem Zug leer. Der Nachtwächter wiehert laut auf, nickt anerkennend und zeigt schon wieder seine Zahnreihen. Ich glaube, er ist ungeheuer stolz darauf. Auch wenn er mir nicht besonders sympathisch ist, bin ich heilfroh, dass er da ist. Außerdem unterhält er mich mit seinen Geschichten über die anderen Palazzi an der Via Appia, die er zu bewachen hat. Er verrät ein paar Geheimnisse ihrer prominenten Besitzer, wer wen mit wem betrügt und wer welche Drogen nimmt. Ich bringe ihm noch ein Bier, und er erzählt immer mehr, bis er völlig unerwartet hochspringt. Er setzt seine Mütze auf, plappert etwas von Pflicht und wird von der Nacht verschluckt. Jetzt bin ich wieder allein. Mir ist kalt, aber ich will auf keinen Fall ins Haus. Ich werde mir eine Jacke holen. Meine Beine sind eingeschlafen, weil ich zu lange so verkrampft gekauert habe. Ich kann kaum auftreten, Millionen von Nadeln flitzen durch meine Füße und Unterschenkel. Ich zwinge mich, mehrmals aufzustampfen, dann geht es wieder.
Vorhin habe ich auf einem Stuhl in der Eingangshalle eine Wolldecke liegen sehen. Die hole ich mir jetzt, wickle mich fest darin ein und setze mich wieder auf die jetzt kalten Steinstufen. Die Büsche um mich herum nehmen Konturen an. Steinfiguren lösen sich aus der Nacht. Wo ist Babbo? Wo bleibt mein Vater? Vielleicht hatte er einen
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