Kindermund (German Edition)
nicht mehr! Ich halte das alles nicht mehr aus! Ich verlasse ihn!« Biggi lässt sich von mir überreden, in den Garten zu gehen, wir hocken uns vor die Hecke, ich streichle sie zaghaft. Anscheinend hat sie mich zu ihrer Verbündeten erkoren.
Auf einmal tritt mein Vater hinter dem Busch hervor. Ich zucke zusammen. Ich habe das Gefühl, einen Geist zu sehen. Er steht vor uns mit verschränkten Armen, das Gesicht zu einer hämischen Fratze verzogen.
Biggi und ich laufen zurück ins Haus. Sie ist furchtbar aufgeregt, schimpft und zetert. Ich bin unsicher, wie ich mich verhalten soll. Vielleicht hört er ja zu. Vorsichtig nähere ich mich den Fenstern und schaue hinaus. Die Wasseroberfläche des Swimmingpools glitzert, die Büsche stehen dick und ruhig. Da ist etwas! Ein Schatten! Ich ziehe mich hinter den Vorhang zurück, spähe wieder hinaus. Ein Rücken taucht kurz auf, bewegt sich entlang der Fenster: Aljoscha, der Schäferhund. Ich verfolge seinen Weg. Da blitzt das helle Hemd meines Vaters auf. Es ist gar nicht der Hund. Er stürzt herein, beschimpft uns als dumme Arschlöcher und Drecksäue und befiehlt uns, in seinem Bett zu schlafen, faucht wie ein Drache und rauscht hinaus. Eine Weile horche ich ihm nach, kein Laut, er ist verschwunden. Panik packt mich. Ich werde verrückt vor Angst. Ein Messer! Ich brauche eine Waffe! Lautlos schleiche ich durch den Flur. In der Küche brennt eine Lampe. Alles ist blitzsauber geputzt und aufgeräumt, Gläser, Teller und Besteck warten auf ihren Einsatz am nächsten Morgen. In Zeitlupe ziehe ich eine Schublade des Schrankes auf und greife mir das Brotmesser. Ich drücke es fest an meine Brust und gehe zurück ins Schlafzimmer. Angezogen lege ich mich aufs Bett, umklammere das Messer und folge den Lichtvögelchen an der Decke, die vom Schwimmbecken hereintanzen. Sie können mich nicht ablenken. Als Biggi aus dem Bad kommt und mich so liegen sieht, lacht sie mich aus: »Was soll das denn?«
»Ich habe Angst vor Babbo!«
»Quatsch! Der tut dir doch nichts!«
Plötzlich vibriert das Bett. Die Matratze wird von unten gegen mich gedrückt. Ein Erdbeben! Ein wildes Tier! Ich will schreien, da taucht am Fußende ein Kopf auf, eine Gestalt schüttelt sich, erhebt sich mühsam. Gegen das schwache Licht von draußen erkenne ich die Umrisse meines Vaters. Er stellt sich breitbeinig vor die Fenster, ich spüre seinen Blick. Das Gefühl, zu ersticken, mischt sich mit meiner Verzweiflung. Ich will auf der Stelle tot sein. Er hat sich unter dem Bett versteckt und alles gehört! Meine Stirn, mein Nacken, meine Oberlippe werden augenblicklich nass von Schweiß. Ich rieche meine eigene Angst. Mein Vater steht bewegungslos, nur sein Schnauben ist zu hören, als würde ihm die Nase laufen. »Pola hat es gut! Sie kann irgendwann wieder wegfahren!«, sagt Biggi schnippisch. Mein Vater schnauzt zurück: »Was hat sie denn bei diesen Spießern in München?!« Dann beginnt er in den ordinärsten Ausdrücken über meine Mutter zu schimpfen. Jetzt kann ich nicht mehr, ich schreie, schreie, schreie und höre nicht mehr auf, erschrecke über die Lautstärke meiner Stimme. Das scheint den Hass meines Vaters noch zu steigern. Wie eine Raubkatze springt er auf mich zu, reißt mir das Messer aus den Händen, zerrt mich vom Bett, schleift mich aus dem Zimmer. Dann packt er Biggi und schleudert sie mit Wucht gegen mich, so dass wir beide beinahe hinfallen, und jagt uns durch den lichtlosen Flur bis ins Zimmer meiner Schwester. Er befiehlt uns, im schmalen Bett meiner Schwester zu übernachten. Nastja muss im Salon auf einem Seidenbänkchen schlafen.
Biggi fällt sofort ins Bett. Da nur Platz für eine ist, knie ich mich ans Fußende, lege meinen Kopf auf die Matratze und schlafe ein. Anscheinend habe ich die ganze Zeit reglos verbracht, denn als ich aufwache, finde ich mich in derselben Stellung wieder. Meine Beine sind eingeschlafen, ich kann sie nicht bewegen. Langsam wird mir klar, wo ich bin, warum ich hier kauere, was in der Nacht passiert ist. Ich schaue zu Biggi. Ihre Lider sind fest geschlossen.
Der frische Morgen, das Blau des Himmels, die Sonne – sie scheinen uns zu verhöhnen. Ich mag den Tag nicht und bohre den Kopf wieder in die Matratze. Von draußen dringen Geräusche herein. Die Tür wird leise geöffnet. Ich stelle mich schlafend. Ein spitzer Schrei lässt mich hochschrecken. Nikolais Gesicht taucht kurz auf, verschwindet wieder. Ein Schatten, ein Pinselstrich. Eine Tür knallt. Habe
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