Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
Vom Netzwerk:
Unfall, liegt im Krankenhaus, oder er ist tot. Ermordet! Was würde ich tun? Sein Konto abräumen, in diesem Haus leben mit meinen Freunden? Als Erstes würde ich eine Glocke auf den Turm schleppen lassen, eine Kirche braucht eine Glocke! Aber eigentlich möchte ich nicht, dass er tot ist. Hier werde ich auf ihn warten, egal, wann er kommt. Ich ziehe die Knie ganz eng an mich, weil ich immer noch friere.
    »Mein geliebtes Püppchen, verzeih mir! Warum liegst du nicht im Bett? Hier ist es viel zu kalt für dich«, höre ich eine Stimme schnurren. Ich muss auf der Treppe eingeschlafen sein. Noch nie war ich so glücklich über das Erscheinen meines Vaters, schlinge meine Arme um seine Beine, will ihn nicht mehr loslassen. Er kichert verlegen, zieht mich hoch, küsst mich mit feuchten Lippen. Schon bin ich nicht mehr so froh über seine Gegenwart und drehe mich zur Seite. Davon lässt er sich nicht beirren. Er presst mich an seinen Körper, steigt mit mir Stufe um Stufe hoch ins Haus, hinauf in den Turm bis in sein Schlafzimmer. Er kramt in seinem Jackett und zaubert ein rosa Päckchen hervor. »Für dich, mein Engel!«, säuselt er. Ich ziehe an der Schleife, sie löst sich ganz leicht, und hebe den Deckel des seidenbezogenen Würfels. Im Innern thront auf einem Kissen aus weißem Satin eine Armbanduhr. »Es ist eine Cartier-Uhr! Sie machen die teuersten Uhren der Welt!«, prahlt mein Vater. Das Schmuckstück sieht zwar schön aus, aber ich hasse Uhren. Natürlich bedanke ich mich und lasse mir nicht anmerken, dass ich nichts damit anzufangen weiß. Den Moment der Peinlichkeit durchbricht mein Vater, indem er mir die Schachtel aus der Hand nimmt, seine nasse Zunge in meinem Ohr kreisen lässt und anfängt, mich auszuziehen. Ich denke in der Zwischenzeit darüber nach, wem ich die Uhr in München verkaufen werde.
    Während mein Vater seine Phantasien an mir auslebt, stürze ich in einen Schacht und lasse mich fallen ins Bodenlose. Es wird schwarz um mich, ich fühle nichts mehr. Nur wenn er zu grob wird, wehre ich mich, vertröste ihn: »Das nächste Mal bestimmt!« Ich weiß, dass ich lüge.
    Der nächste Tag vergeht in Roms Innenstadt mit der üblichen Hetzerei von Boutique zu Boutique. Beim Juwelier Bulgari flüstert er mit einem Herrn, der ständig um ihn herumscharwenzelt. Später liegt ein rotes Päckchen auf der Rückbankdes Rolls-Royce. Die Sonne verfärbt sich rötlich, hoch oben zeigt sich eine blasse Mondsichel. Die Fahrt zurück durch die Stadt ist wunderschön. Plätze mit Brunnen, Straßencafés, luftig gekleidete Menschen, die lachen, sich küssen. Und ich bin eingesperrt in diesem Auto, in diesem Haus! Der Wagen biegt in die Einfahrt. Das Eisentor schnappt zu, der Käfig ist wieder verschlossen.
    Mein Vater nimmt ein Bad, steht lange vor dem Spiegel, probiert verschiedene Hosen, Hemden, Jacketts. Was er verwirft, landet auf dem Boden, Arbeit fürs Personal. Der Haufen wächst beachtlich. Er wirkt abwesend. Wahrscheinlich lässt er mich heute Abend wieder allein. Ich halte das nicht aus, muss raus hier! Wie mache ich ihm klar, dass ich mich in den Trubel stürzen will? Ich bin jung, ich will leben, will hinaus in die Stadt, mit diesen Mädchen und Jungen lachen, tanzen, Spaß haben. Stattdessen werde ich festgehalten in einer Kirche bei einem alten Kerl. Muss warten, bis der nach Hause kommt und seine Geilheit an mir abreagiert.
    Mein Vater haucht: »Ciao, mein Engel, ich muss noch mal kurz weg!«, drückt seine nassen Lippen auf meine, schnappt einen Panamahut und verschwindet. Als ich den Motor aufheulen höre, werfe ich mich vor die nächste Kloschüssel und kotze. Das genügt mir nicht. Ich ramme mir einen Finger, zwei, die ganze Hand in den Rachen, bis nur noch gelbe Flüssigkeit in die Schüssel tropft und mir schwindlig wird. Ich wanke vor den Spiegel. Eine fremde Person schaut mich an: leerer Blick aus wässrigen Augen, die Gesichtshaut aufgequollen. Ich wende mich ab, falle auf ein Bett und weine, schluchze, schreie. Es ist egal, hier hört mich sowieso keiner. In München bin ich überflüssig, ungewollt, störend. Bei meinem Vater bin ich gewollt, begehrt, er kämpft um mich, zeigt mir, wie sehr er mich braucht, wie wunderbar es ist, dass es mich gibt. Und zwingt mir ununterbrochen seinen Willen auf.
    Jemand pfeift ein Lied. Der Nachtwächter! Der einzige Mensch, der meine Einsamkeit und Angst für kurze Zeit vertreibt.
    »Hallo! Ich komme gleich!«, rufe ich aus einem Fenster. Ich muss mich

Weitere Kostenlose Bücher