Kindermund (German Edition)
noch viel kleiner als er und fadendünn. Die hüftlangen Haare hat sie wie Vorhänge vors Gesicht gezogen, als wollte sie sagen: »Lass mich in Ruhe! Ich will nicht gestört werden.« Sie grüßt knapp, es ist kaum wahrzunehmen. Ich sehe an ihr herunter. Was für winzige Füßchen sie hat! Alles an ihr ist klein! Ich bin schon schmal, aber neben diesem Fädchen komme ich mir vor wie ein Riesenbaby. Das soll seine neue Frau sein? Sie wirkt wie ein Kind.
»Das ist Geneviève!«, sagt er und verschlingt ihr kleines Gesicht mit seinem Riesenmaul. Als er satt ist, sagt er: »Das ist Pola, meine Tochter!« Er packt mich am Pferdeschwanz, zieht mich zu sich heran und saugt sich an meiner Oberlippe fest. Diese Geneviève glotzt mich kalt und unbeteiligt an – ich glotze zurück.
Wir müssen uns zu dritt vorne in einen Sportwagen quetschen, der Motor heult auf, ich schäme mich vor den Gaffern. Es ist mir unangenehm, diese fremde Person neben mir zu spüren und zu riechen. Ich bin zwischen ihr und der Wagentür eingeklemmt. Hoffentlich springt die nicht plötzlich auf, und ich stürze raus. Ich wage einen Blick zu dem Wesen, mit dem meine linke Körperhälfte verwachsen ist. Sie hält den Kopf stur geradeaus, zwischen den Vorhängen schauen Nase und Mund hervor, die Lippen sind trotzig verschlossen.
Rom fliegt in seiner gewohnten Schönheit an uns vorbei. Alle Fenster sind offen. Keiner sagt etwas. Wir schweigen die ganze Fahrt über. Ich fühle mich unwohl, angespannt, fremd und beginne die Zypressen zu zählen.
Bei zweihundertsiebenundneunzig bremst mein Vater hart ab – das Wesen und ich fliegen gemeinsam gegen die Scheibe – und biegt von der Via Appia in die Einfahrt. Das Portal öffnet sich, der Wagen rollt auf dem Kies aus. Zwei Frauen stürzen herbei, helfen uns heraus, ich habe sie vorher noch nie gesehen. »Die neuen Diener: Mutter und Tochter«, stellt mein Vater sie später vor. Sie sind sehr freundlich, sehr unterwürfig und total verängstigt. Fehlt nur noch, dass sie vor mir herkriechen und mit Hexenbesen den Kies fegen.
Mein Vater legt einen Arm um mich, den anderen um die Neue, und wir betreten als siamesische Drillinge die Eingangshalle. Dabei reibt er abwechselnd seine Hüften an mir und an ihr. Ich schäme mich vor den Angestellten. Was werden die denken!
In der Halle schaue ich mich um. Einiges ist anders: Es stehen mehr Möbel herum, kleine Sessel und Sofas wie hingeworfen. Und überall große Vasen mit Blumen. Es riecht fremd, schwer und süßlich, irgendwie faulig. Das Ritual beginnt, ich kenne es: die Kleider abstreifen, fallen lassen, darüber wegsteigen, ins Bad huschen, in einen Schaumberg eintauchen, dann verschwinden. Badeöl von Balmain: eine Frühlingswiese voller Maiglöckchen. Ich atme tief ein, bis in den Kopf. Momente, in denen ich mich wohlfühle. Wenn meine Haut schrumpelig wird vom heißen Wasser, trockne ich mich mit Badetüchern ab, die so weich sind wie Samt. Ich bin eine Prinzessin, umgeben von Gold, Samt und Seide! Dann wickle ich den Bademantel fest um meinen Körper, um meine Nacktheit zu verbergen und keine Begierden zu wecken. Das ist für mich so selbstverständlich geworden wie Zähneputzen. Ich setze mich auf den Wannenrand und warte. Was soll ich jetzt tun? Wohin darf ich gehen? Mit der neuen Frau hat sich die Atmosphäre im Haus geändert. Ich fühle mich fremd und überflüssig. Der Spiegel im Goldrahmen mir gegenüber nimmt fast die ganze Wand ein. Er scheint über mich zu wachen. Nichts entgeht ihm, keine Bewegung, kein Blick. Aus Langeweile fange ich an, mit ihm zu spielen, ziehe Grimassen, strecke ihm die Zunge raus.
Da höre ich meinen Namen. Ich öffne die Tür und horche. Mein Vater ruft mich. »Pola!«, und noch mal »Pola!«, ich folge der Stimme und lande in seinem Schlafzimmer. Er und das Wesen sind in Bergen aus Kissen, Spitzen und Rüschen versunken – alles weiß.
Aus dem Fernseher, der auf einem Hocker vor dem Riesenbett steht, plärren italienische Moderatorenstimmen. Mein Vater wiehert laut auf: »Das gibt es nicht! Das darf nicht wahr sein! Dieser Kretin! Wie beschissen dieses Arschloch aussieht!« Er sitzt aufrecht im Bett, der ausgestreckte Zeigefinger zittert in Richtung Bildschirm, dann stottert er irgendwelche Ausdrücke, die ich nicht verstehe, seine Augen treten aus den Höhlen, Schaum bildet sich in den Mundwinkeln. Ich schaue zum Fernseher, sehe einen farblosen Showmaster. Wieder bricht mein Vater in hysterisches Gelächter aus, die
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