Kindermund (German Edition)
Neue kichert, also kichere ich auch, um nicht aufzufallen. Immer noch stehe ich dumm rum, ich möchte nicht mit aufs Bett. »Komm zu uns, mein Püppchen!«, haucht er. Ich setze mich ans Fußende, auf die äußerste Kante. Mein Po berührt kaum die Matratze. Plötzlich rutsche ich ab und lande auf dem Boden. »Was machst du denn!«, schnauzt er, »mach nicht so ein Theater und komm jetzt endlich her!« Ich schäme mich, krieche auf allen vieren ums Bett herum zu ihm, bleibe aber auf dem Teppich sitzen. Mein Vater streichelt meinen Nacken. Weil mich das Fernsehen nicht interessiert, schweift mein Blick im Schlafzimmer umher. Es sieht alles aus wie immer. Nein! Auf einem Nachttisch steht ein Foto in einem Silberrahmen: das lachende Gesicht meines Vaters. Darauf steht geschrieben: Kinski gehört Geneviève! Das Gelächter wird weniger, das Kraulen an meinem Nacken lässt nach, die Hand liegt schlaff auf meiner Schulter. Mein Vater ist eingeschlafen, ich stehle mich in mein Zimmer.
Der Duft von Kaffee und Biskuits weckt mich. Aus der Küche höre ich italienische Stimmen schnattern, so schnell undaufgeregt, man könnte meinen, es würde um sehr Wichtiges gehen, begleitet vom Klappern von Geschirr. Sie sind fröhlich, das höre ich. Nach dem Frühstück im Bett spähe ich durch die angelehnte Tür ins Schlafzimmer meines Vaters. Ich will sehen, ob sie schon auf sind und was sie machen. Auf dem Bett inmitten von Seidenkissen thront die Neue. Die langen Haare sind zu einem Knoten gedreht und ganz oben auf dem Kopf festgesteckt. Sie blickt konzentriert vor sich hin. Neugierig schleiche ich in ihre Nähe. Sie fummelt mit einem winzig kleinen Gerät an einem Stück Kunststoff herum. So etwas habe ich noch nie gesehen. Vor ihr auf einem goldenen Tablett liegen kleine Tuben, Töpfchen, Wattebällchen in Hellblau, Rosa, Gelb, verschiedene Nagellackfläschchen, Feile, Nagelschere und noch mehr. Es dauert, bis ich begreife, was sie treibt. Sie trägt die längsten, spitzesten Fingernägel, die ich je gesehen habe. Einer scheint abgebrochen zu sein, denn sie formt hingebungsvoll aus einer weißlichen Masse ein nagelähnliches Gebilde, passt es an die Abbruchstelle an und verstreicht die Ansätze. Dann pustet sie auf den Nagel und verschönt ihn zum Schluss mit Nagellack. Ich bin fasziniert, mit welcher Ruhe und Geduld dies vor sich geht. Nur einmal hebt sie kurz den Kopf und schaut mich desinteressiert an.
D urch die zugezogenen Vorhänge fällt Licht. Ich erwache in meinem Bett in einem Turmzimmer in der Via Appia. Jetzt bin ich doch eingeschlafen, obwohl ich das auf keinen Fall wollte. Mein Vater hat Mittagsschlaf angeordnet. Lächerlich! Mittagsschlaf mit sechzehn! Aber wie immer habe ich getan, was er befohlen hat: Habe mich ausgezogen sofort nach der Rückkehr aus der Stadt, die Kleider auf den Boden fallen lassen fürs Personal (sie müssen alles, auch wenn wir es nur einmal kurz getragen haben, sofort in die Reinigung bringen), habe mich gebadet und ins Bett gelegt. Ich gehorche immer. Jedenfalls spiele ich ihm das unterwürfige Mädchen vor, solange mich seine unerbittlichen Augen verfolgen – ihnen entgeht nichts. Hinter seinem Rücken mache ich dann, was ich will, so wie es alle tun. Ich glaube, mein Vater will angelogen werden. Er zwingt jedem seine Meinung, seinen Willen, sein Leben auf und merkt dann nicht, dass die ganze Welt ihn hintergeht? So dumm kann er nicht sein. Vielleicht ist er deshalb so oft gereizt, schlecht gelaunt, zornig, weil er spürt, dass ihm alle hinter seinem Rücken die Zunge rausstrecken, ihn auslachen, belügen, mit Fingern auf ihn zeigen. Alle kriechen ihm in den Arsch. Die einen aus Angst wie ich, die anderen aus Berechnung und Gier. Zu meiner Mutter hat er einmal gesagt: »Ich bin nie glücklich! Keine Sekunde! Ich bin der einsamste Mensch auf dieser Welt!« Er tut mir nicht leid.
Obwohl ich nackt und frisch gebadet bin, klebe ich am Laken fest. Nur meine Füße sind kühl. Die waren nicht zugedeckt, als ich schlecht geträumt habe. Vielleicht drang das Geschrei meines Vaters und seiner Freundin Geneviève bis in meinen Schlaf. Sie stritten in einem anderen Stockwerk, aber ich konnte es durch die Mauern hören. Es ging los, kaum waren wir von der üblichen Einkaufstour zurück. Ich warauf dem Weg ins Bad, als ich Geneviève plötzlich schreien hörte: »Für mich wurde nichts gekauft! Nur für Pola, nur für Pola!« Kurz war es daraufhin still. Dann tobte mein Vater los, sie solle ihr Maul
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