Kindermund (German Edition)
Unsummen von Geld in den Rachen geworfen, sie alle bewirtet mit Delikatessen, sie haben in seinen Luxuszimmern gehaust, von den goldenenTellern gegessen, aus den blutroten Kelchen getrunken, nur damit er nicht allein ist. »Alles Schmarotzer!« Sie haben sich breitgemacht in seiner Großzügigkeit. Als er merkte, dass sie ihn nur ausnutzten, habe er »dieses Ungeziefer, diese Ratten rausgeschmissen!«. Die Fixer wollten nicht gehen, so hat er sie in einem Rausch von Wut die Treppen hinuntergestoßen. Als alle verschwunden waren, stand mit Blut an die Wände geschmiert: »Kinski ist ein Arschloch!«
Mein Vater zieht mir den letzten Schlüpfer aus …
Sein Schnarchen zersägt die Stille. Lautlos gleite ich von der Matratze, schlüpfe hinter die schweren Damastvorhänge. Sie bilden eine Wand zwischen mir und ihm. Ich ziehe mich am Fenstersturz hoch, rutsche auf dem Bauch ganz nach vorne. Das Fenster steht offen. Gierig atme ich die Nachtluft ein, ich will sie trinken, ein Stück Himmel aufsaugen. Wenn ich nur wegfliegen könnte!
Der Hof wird kalt vom Mond erleuchtet. Dahinter ist alles schwarz. Eine Fledermaus flattert vorbei, noch eine. Ich lege den Kopf auf die Arme, kneife die Augen zu. Ich träume mich fort in ein Leben, das ich nicht kenne: ohne Angst, ohne Schmerz. Ich sehne mich nach einem Freund, ich möchte mich verlieben. Aber vorher muss ich in der Kirche endlose Stufen zum Altar hochsteigen und jede einzelne zählen. Ich verzähle mich ständig, muss immer wieder von vorn anfangen, komme nicht vorwärts, trete immer auf dieselbe Stufe. Es regnet schwarze Käfer auf mein weißes Kleid, sie verschmelzen sofort mit dem Stoff. Der verwandelt sich zu zähem grauem Brei. Ich kämpfe mich durch stinkenden Sumpf, durchs schwarze Moor. Eine Stimme ist hinter mir her: »Wo willst du hin? Pola, Polaaaaaaaa! Wo bist du!«
Schlagartig bin ich wach. Es ist die Stimme meines Vaters, der mich im ganzen Haus sucht. Ich halte die Luft an. Die Stimme wird ungeduldig, laut und böse. Ich springe aus meinem Versteck und laufe dem Rufen nach. »Hier binich, hier!« An der Tür zum Kirchenschiff finden wir uns. Er umschlingt meinen Körper wie ein Krake, quetscht mich an seinen Unterleib. »Mein Engel, ich habe mir solche Sorgen gemacht!«, jammert er. Ich kann nicht atmen, er tut mir weh, ich stemme mich gegen ihn, halte still, warte auf den Moment zu fliehen. Das macht ihn wütend: »Was ist mit dir los? Spinnst du denn völlig! Komm, lass das sein!« Meine Arme hängen schlaff herunter, ich höre auf, mich zu wehren.
»Mein Püppchen, bitte zieh ganz zu mir! Ich möchte dich immer ganz nah bei mir haben!«, schmeichelt er, »du kannst dir alle Zimmer und Möbel aussuchen, die du willst! Ich brauche dich, ich bin so allein! Du darfst mich jetzt nicht verlassen! Du darfst mich nie verlassen! Hörst du! Verstehst du das!«
»Nein!«
»Was heißt nein?!«, schreit er mich an.
»Nein, ich meine ja!«, wimmere ich. Er macht mir Angst! Ist er verrückt geworden?
Immer schon hat mein Vater meine Schwester und mich bei allen Gelegenheiten fotografiert. Natürlich hat er uns zuvor nach seinem Geschmack ausstaffiert: Kleidchen, weiße Kniestrümpfe, Schleifen in den Haaren. Es war Quälerei: stillhalten, lächeln, natürlich lächeln. »Mach nicht so ein blödes Gesicht!«, schnauzte er uns ständig an. »Ich fasse es nicht, wie verkrampft du schaust! Schau gefälligst natürlich! Lächle, verflucht, lächle!« Mittlerweile ist aus der Quälerei die reinste Folter geworden. Mein Vater nimmt sich unendlich viel Zeit, mich anzukleiden. Es ist Leidenszeit, bis er das passende Kostüm gefunden hat. Dann schminkt er mich: Zuerst schmiert er so lange Tusche auf meine Wimpern, bis sie zu Spinnenbeinen werden. Er tupft schwarzen Lidschatten rund um meine Augen, danach verwischt er ihn mit den Fingern. Mit besonderer Hingabe malt er meine Lippen rosa oder brennend rot an, um die Farbe anschließend mit dem Handrücken zu verschmieren. Zum Schluss fährt er mit beiden Händen in meine Haare, verwuschelt sie wild. Als ich mich im Spiegel sehe, schreie ich auf: »Nein! Auf keinen Fall lasse ich mich so fotografieren! Ich sehe ja aus wie eine Nutte!«
»Das ist doch süß! Als hättest du fünf Nächte nicht geschlafen! Verrucht, so versaut!«
Er ist verrückt geworden! Ich muss weg von ihm! Ich habe Angst! Wo soll ich hin? Mama, bitte hilf mir! Lieber Gott, hilf mir!
»Setz dich auf den Stuhl hier und schau mich an!«
Ich tue, was er
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