Kindermund (German Edition)
verlangt.
Die Fotositzung dauert bis in die Nacht. Ich kann mich nicht an viel erinnern, manchmal spüre ich seine Hände, die meinen Körper verdrehen, in eine bestimmte Stellung bringen. Ich mache mich tot.
Ein Kinderfoto meiner Mama in einem kleinen runden Goldrahmen ist in meiner Hand eingeschlossen. Ich habe es nach Rom mitgenommen, um mich daran festzuhalten. Obwohl er mein weniges Eigentum vernichtet hat, kein Millimeter meines Körpers mehr mir gehört, jede Regung, jede kleinste Bewegung von seiner Erlaubnis abhängt – selbst wenn ich aufs Klo muss, fragt er: »Wo gehst du hin?« –, habe ich es geschafft, es vor ihm zu verbergen. Weder beim Essen noch beim Zähneputzen, nicht einmal wenn ich mich wasche, gebe ich es frei. Auch nicht, wenn er mich quält und ich mich tot mache. Dieser Schatz ist ein Teil von mir geworden: aufgequollen, verknittert und wellig von Tränen, Schweiß und Badewasser. Meine Mama als Vierjährige ist kaum mehr zu erkennen, aber ich vergöttere dieses Bild, ich brauche es, ich spreche mit ihm, es hilft mir, die Folter zu überstehen, nicht zu sterben.
Wie komme ich hier raus? Ich will nichts wie weg, und gleichzeitig weiß ich genau: Das Flugzeug, in dem ich zurückfliege, wird abstürzen, und ich werde meine Mutter niemehr wiedersehen. Dieses Gefühl, diese Gewissheit macht mich wahnsinnig. Ich flehe zu Gott, dass er mich zu meiner Mama zurück lässt. Dafür muss ich eine bestimmte Seite in einem Buch immer wieder aufschlagen. Hundertmal, zweihundertmal. Mein Vater erwischt mich dabei, aber ich kann nicht aufhören. Er schnauzt mich an: »Lass das sein! Ich kenne das alles! Ich bin sowieso viel sensibler als du! Das ist alles Quatsch! Zieh dich an, wir gehen essen!« Als er hinausgerauscht ist, zwingt mich das Buch, es wieder aufzuschlagen, sonst werde ich bestraft, sonst stürzt mein Flugzeug ab.
Meine Mutter ruft an und fordert meinen Vater auf, mich endlich zurück nach München zu schicken, ich könne ja nicht wochenlang die Schule schwänzen. Sie ahnt nicht, wie dankbar ich ihr bin. Er bestellt maulend ein Flugticket.
Bevor ich abreise, steckt er mir einige große Scheine in die Tasche. »Für dich, mein Püppchen! Du musst ganz bald wiederkommen, und dann bleibst du für immer bei mir! Aber ich muss dir noch etwas geben, komm mit!« Er steigt die Stufen in den Turm hinauf, nimmt immer zwei auf einmal, ich kann ihm kaum folgen. Wir stehen vor einer niedrigen Holztür, es geht nicht mehr weiter. Hier war ich noch nie. Der Schlüssel knackt im Schloss, die Tür knarzt. Ich muss mich bücken, um einzutreten. Ein Zimmerchen wie ein Verlies, mit einem winzigen Fenster. Im Dämmerlicht erkenne ich einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett. Mein Vater verschwindet fast ganz in einem Schrank. Hektisches Rascheln, anscheinend sucht er etwas. »Und das und das und das …«, höre ich ihn murmeln. Er taucht wieder auf, streckt mir ein Bündel Papier entgegen: »Hier!« Ich schaue ihn fragend an. »Nimm endlich!«, bellt er und wirft mir den Packen ins Gesicht. Blätter segeln zu Boden. Er schreit auf. Einen Teil konnte ich auffangen, den Rest suche ich zusammen. Es sind Schwarzweißporträts von ihm, als er noch jünger und gutaussehend war. Er sieht mich unsicher an, ein kurzes Flackern, ein Flehen in den Augen. Ich muss ihm versprechen, die Bilder übermein Bett zu hängen, egal, wo ich wohne. »Schwör mir, dass kein Kerl, kein mieser Kretin dich jemals anfassen darf! Nur ich darf das! Hörst du! Nur wir beide dürfen so süße Dinge miteinander tun! Verstehst du das! Und du wirst niemals mit irgendjemandem darüber sprechen! Hörst du! Nie in deinem Leben! Schwör es mir!« Ich nicke, ich schwöre, ich tu, was er von mir verlangt.
Vor dem Start schnalle ich mich zigmal an und ab, ich muss das tun, ich habe Angst, dass ich sonst abstürze, dass Gott mich bestraft. Das Flugzeug hebt ab, ich habe das Gefühl, es schießt senkrecht in die Wolken, meine Fingernägel schneiden in meine Schenkel, bis sie bluten. Ich drehe mich um, mein Blick wandert von Passagier zu Passagier: keine Spur von Unruhe auf ihren Gesichtern. Sie lesen oder schlafen, wirken vollkommen entspannt. Warum bin ich die Einzige, die Angst hat? Als nichts passiert, die Maschine gleichmäßig brummt, schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel strahlt in tiefstem Blau, keine Wolke, das Meer unter mir glitzert.
D iesmal ist mein Vater nicht allein zum Flughafen gekommen. Das fremde Wesen, halb hinter ihm verborgen, ist
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